Tod oder Reben: Ein Wein-Krimi aus Südtirol (German Edition)
Hundert. Das fiel ihr nicht leicht, denn sie glaubte an Zeichen.
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Am nächsten Morgen stellte Emilio fest, dass er in der Nacht weder gestorben war noch sein Gedächtnis verloren hatte. Es ging ihm sogar deutlich besser als erwartet. Nun gut, heute taten ihm gleich beide Knie weh. Er hatte pochende Kopfschmerzen, seine rechte Schulter war geschwollen, und der Arm ließ sich nur mit zusammengebissenen Zähnen bewegen. Aber in Anbetracht der gestrigen Ereignisse waren das erträgliche Blessuren. Er machte sich vier Tassen Espresso, stellte sie nebeneinander auf die Küchentheke – und trank sie nacheinander aus, jeweils mit einer Schmerztablette. Er war sich nicht sicher, ob er das vertrug, aber sein Magen war relativ robust – und er hielt ganz generell nichts von homöopathischen Dosen. Vorhin hatte er mit Steixner telefoniert. Er würde in zirka einer Stunde kommen. Bis dahin wollte Emilio weg sein. Er hatte keine Lust auf Konversation. Er schlurfte hinkend und leise stöhnend durchs Haus und sammelte seine verstreuten Habseligkeiten ein. Ab und zu musste er sich an den Wänden abstützen, dann wieder hinsetzen, um neue Kräfte zu sammeln. Aber es ging besser als befürchtet. Als Nächstes suchte er nach den von ihm geleerten Weinflaschen, um sie in einer Tüte mitzunehmen. Er tat dies nicht aus Ordnungssinn oder um die Flaschen umweltgerecht zu entsorgen. Wie war gleich noch mal der Plural von Corpus Delicti? Corpora Delicti, richtig. Jedenfalls handelte es sich dabei um Beweisstücke, die man besser verschwinden ließ.
Auf dem Esstisch waren noch einige der Fotos ausgebreitet, die er bei Marco sichergestellt hatte. Während er sie zusammenschob, um sie in einem kleinen Karton zu verstauen, hielt er kurz inne. Er nahm ein Bild zur Hand, auf dem die grell geschminkte Drag Queen zu sehen war, nach der er in Verona geforscht hatte. Er hatte das Foto schon einmal gleich nach dem Aufstehen angeschaut, noch vor dem Duschen. Noch immer konnte er nicht glauben, was ihm Marco gesagt hatte. Glauben konnte er es nicht, aber er war sich mittlerweile sicher, dass ihn Marco nicht angelogen hatte. Er hatte auch schon versucht, logisch weiterzudenken, mögliche Schlussfolgerungen zu ziehen und eine Theorie zu entwickeln. Aber sein Denkapparat funktionierte noch nicht richtig, arbeitete offensichtlich in einem wenig leistungsfähigen Notprogramm. Er kannte Menschen, die kamen beim Denken nie über ein solches Notprogramm hinaus, waren aber dennoch überlebensfähig, was ihn immer wieder überraschte. Das Erstaunlichste dabei war, dass sie es selbst nicht merkten.
Etwas wehmütig sah er auf den Flügel. Er hätte zum Abschied gern einige Minuten Gershwin gespielt. Aber laute Geräusche waren seinem Kopf heute definitiv nicht zuträglich. Blieb die Frage, wie er den weiteren Tag gestalten sollte? Er erinnerte sich, dass er gestern Abend den Gedanken, Phina zu besuchen, als Wahnsinnsidee verworfen hatte. Aber genau das würde er jetzt tun – ohne Voranmeldung, mit dem Mut eines Mannes, der dem Tod gerade entronnen war.
***
Auf der Fahrt hielt er an einem Laden, wo es hervorragende belegte Brote gab, mit Tiroler Speck und Bergkäse. Später machte er eine erneute Pause, um Marcos Totschläger und das noch immer blutverschmierte Kampfmesser unter einem der beiden Rücksitze zu verstecken, der Anblick konnte einen erschrecken. Mittlerweile hatte er ein ansehnliches Waffenarsenal angesammelt. Er hielt es für verfrüht, sich davon zu trennen. Gestern hatte ihm das Rambo-Messer das Leben gerettet. Was aber nur nötig gewesen war, weil er ohne seinen Gehstock in einer Apfelplantage gepinkelt hatte.
Emilio setzte sich auf eine Bank. Er betastete seine Schulter, das tat höllisch weh. Er dachte nach. Erfreulicherweise hatten sich seine kognitiven Fähigkeiten in der letzten Stunde deutlich verbessert. Allerdings war die Hypothese, die sich aufdrängte, von so schlichter Logik, dass er darauf nicht stolz sein musste. Schwieriger dürfte es sein, die unterstellte Möglichkeit zu bestätigen – oder zu widerlegen. Gestern hatte er noch geglaubt, dass er die Heimreise mit dem guten Gefühl antreten könnte, seine Mission erledigt zu haben, auch wenn er die Täterin davonkommen ließ. Das gute Gefühl war ihm zwar egal, er würde sich auch bei einem Scheitern nicht schlechter fühlen, vor allem wenn er dafür bezahlt wurde. Aber der Satz von Marco hatte alles verändert. Jetzt konnte er nicht so einfach
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