Tod oder Reben: Ein Wein-Krimi aus Südtirol (German Edition)
Zubettgehen hatte sie noch zum Mond hinaufgeschaut und an die kosmischen Kräfte gedacht, an die sie fest glaubte. Als Anhängerin des biodynamischen Weinbaus führte sie beispielsweise den Rebschnitt nur bei abnehmendem Mond durch, dem Unkraut widmete sie sich grundsätzlich bei zunehmendem Mond. Sie verstand nicht, warum dem Einfluss des Mondes auf die Menschen und die Natur nicht mehr Beachtung geschenkt wurde. Der Mond verursachte Ebbe und Flut, beeinflusste je nach seiner Stellung zur Erde und zu den Planeten das Wachstum der Pflanzen. Phina orientierte sich bei ihrer Arbeit am Mondkalender von Maria Thun und damit an der anthroposophischen Weltsicht von Rudolf Steiner. Es stand für sie zweifelsfrei fest, dass bei zunehmendem Mond der Saft der Rebstöcke nach oben stieg und bei abnehmendem Mond nach unten in die Wurzeln wanderte. Die Feuerzeichen Widder, Löwe und Schütze gaben ihren Trauben Kraft und Wärme. Sie ging nicht so weit, dass sie sich nur die Haare schneiden ließ, wenn der Mond im Löwen stand. Aber im Weinberg versuchte sie, möglichst wenig Kompromisse zu machen. Sie versuchte sogar, das Geschmacksbild ihrer Weine über die Wärmeplaneten Merkur und Saturn zu beeinflussen, sie vollmundiger zu machen und ausdrucksstärker. Ihr Vater hätte sie für schwachsinnig erklärt und in eine geschlossene Anstalt eingewiesen.
Der Mond dirigierte das Wasser auf der Erde. Und weil der Mensch zu zwei Dritteln aus Wasser bestand, war es für sie nur logisch, dass die Mondphasen nicht nur ihren Wein beeinflussten, sondern auch ihr ganz persönliches Wohlbefinden. Heute Nacht stand der Mond in einer ungünstigen Konstellation. Phina fühlte sich zerschlagen, zugleich erschöpft und nervös, mal war ihr kalt, dann wieder heiß. Ihre Gedanken gingen wirr durcheinander. Sie war alles andere als im Einklang mit den kosmischen Kräften. Kein Wunder, dass sie nicht richtig schlafen konnte.
Gerade hatte sie noch vom Mond geträumt, hatte sich selbst durch den Weinberg schweben sehen, im weißen Nachthemd, mit der Rebschere in der Hand. Aus dem Mond war das Gesicht ihres Vaters geworden, der sie erst liebevoll anlächelte, dann aber immer böser dreinblickte, sich schließlich in eine wütende Fratze verwandelte. Phina schreckte auf, saß schweißnass in ihrem Bett. Was war mit ihr los?
Sie ging ins Bad, zog das Nachthemd aus und nahm eine eiskalte Dusche. Danach ging es ihr besser. Sie betrachtete ihren nackten Körper im Spiegel. Sie war durch ihre Arbeit muskulös, hatte gleichzeitig ausgesprochen weibliche Proportionen. Aber was hatte sie davon? Warum dachte sie jetzt an ihren Hausgast? Dieser Baron Emilio war ein seltsamer Mensch. Merkwürdigerweise fühlte sie sich von ihm angezogen. Wahrscheinlich gerade deshalb, weil er so anders war, sie vor allem nicht anbaggerte. Phina wusste, dass sie daran nicht unschuldig war. Sie hatte ihm einige Male die Tür vor der Nase zugeschlagen, im übertragenen Sinne, zum Beispiel im Barriquekeller, wo sie sich zum ersten Mal etwas nähergekommen waren. Aber erstens hatte sie genau davor plötzlich Angst gehabt. Zweitens hätte er nicht nach dem Traktorunfall ihres Vaters fragen dürfen. Und drittens ging es ihn nichts an, wie gut sie Niki gekannt hatte.
Sie zog einen Bademantel an und trat hinaus auf den Balkon. Trotzdem, dieser verrückte Baron hatte was. Man wusste nie, was er als Nächstes tat oder sagte. Manchmal hatte sie das Gefühl, er wusste es selber nicht. Auch schien er häufig zu vergessen, warum er hier war. Statt sich mit Theresas Auftrag zu beschäftigen, saß er im Liegestuhl, ging spazieren oder besuchte Weingüter. Nun gut, dagegen hatte sie nichts, ganz im Gegenteil. Sie war der Meinung, dass man die Vergangenheit ruhen lassen sollte.
Emilios leichtes Hinken störte sie nicht, vor allem hatte sie gelegentlich das Gefühl, dass das kaum mehr war als eine Attitüde. Denn wenn er es eilig hatte, was zugegebenermaßen selten vorkam, schien das Beinleiden plötzlich verschwunden und der Gehstock die eigentliche Behinderung. Dass er sich über andere Menschen gerne lustig machte und sie mit abfälligen Bemerkungen bedachte, amüsierte sie. Denn erstens hatte er meistens recht, und zweitens war sie sich auch in diesem Punkt nicht sicher, ob das seine wahre Haltung widerspiegelte oder der Zynismus nur eine Art von schwarzem Humor war. Darauf angesprochen, hatte er mal Oscar Wilde zitiert: «Ich bin durchaus nicht zynisch, ich habe nur meine Erfahrungen, was
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