Tod vor der Morgenmesse
nüchtern. Dann wandte er sich unversehens zum Gehen und meinte über die Schulter hinweg: »Wollen mal sehen, wie weit Fidelma mit ihrer Befragung von Schwester Sinnchéne gekommen ist.«
Fidelma hatte sich zum
tech-nigid
begeben, wo sie auch Schwester Sinnchéne im Hauptraum fand. Sie hantierte gerade mit einem Reisigbesen und blickte auf, als sie den Gast bemerkte. Sofort machte sich Argwohn auf ihrem Gesicht breit.
»Ich würde gern mit dir reden, Schwester«, sprach Fidelma sie heiter an.
Der Schatten Argwohn setzte sich fest.
|172| »Worüber?« fragte sie kurz angebunden, fast grob.
»Über den Ehrwürdigen Cináed.«
Sorgsam stellte die junge Frau den Besen beiseite und blieb leicht verkrampft vor Fidelma stehen.
»Du hast gewiß mit Schwester Buan gesprochen?« Es war mehr eine sachliche Feststellung als eine Frage.
»Wie kommst du darauf?«
Schwester Sinnchéne zuckte die Achseln, fast etwas trotzig.
»Ich weiß, daß du eine
dálaigh
bist. Im Kloster tuschelt man, du willst den Tod des Ehrwürdigen Cináed aufklären und auch den der Äbtissin Faife und willst Licht in das Verschwinden der Mitglieder des Ordens bringen.«
»Laß uns nicht hier in der Kälte stehen«, meinte Fidelma und bewegte sich auf das Feuer zu, über dem ein Kessel brodelte. Schwester Sinnchéne folgte ihr und griff zwei Schemel, die in der Küche standen. Sie setzten sich an das Wärme spendende Feuer einander gegenüber.
»Wann hast du den Ehrwürdigen Cináed das letzte Mal gesehen?« begann Fidelma die Befragung.
»Meinst du vor seinem Tod?«
Fidelma blieb geduldig. »Hast du ihn auch danach gesehen?«
»Natürlich. Nachdem die Ärztin mit ihrer Untersuchung fertig war und man den Leichnam aufgebahrt hatte. Wir haben ihm da alle die letzte Ehre erwiesen.«
»Aha. Aber wann genau vor seinem Tod hast du ihn zuletzt gesehen?«
Schwester Sinnchéne neigte den Kopf zur Seite und überdachte die Frage eine Weile.
»Am Abend, bevor er starb. Es war hier im
tech-nigid
. Nach dem Abendessen. Ich hatte Spätdienst.«
|173| Fidelma war bemüht, sich ihre Verwunderung nicht anmerken zu lassen.
»Hier im Waschhaus? Welchen Grund hatte er?«
Das Mädchen machte eine trotzige Kopfbewegung.
»Er kam oft hierher.«
»Da Schwester Buan die Wäsche für ihn machte, geh ich wohl recht in der Annahme, daß er nicht kam, um seine schmutzige Wäsche zu bringen?«
Sie lächelte süffisant.
»Stimmt. Er wollte mich besuchen.«
»Verstehe. Gab es einen besonderen Anlaß für derartige Besuche?«
»Du bist naiv, Schwester«, erwiderte das Mädchen und tat fast amüsiert.
»Wäre der Ehrwürdige Cináed zwanzig Jahre jünger gewesen, könnte man mich mit gutem Grund naiv schelten. Aber in Anbetracht seines Alters und der Tatsache, daß er mit Schwester Buan verheiratet war und daß er mit zunehmenden Jahren impotent wurde, wie sie behauptet, mußt du mir schon die Frage gestatten: Gab es einen besonderen Anlaß für derartige Besuche?«
Als freundlich konnte man den Gesichtsausdruck der jungen Nonne nicht bezeichnen. »Ich empfehle dir, Schwester Buan etwas näher über ihr Verhältnis zu Cináed zu befragen.«
»Willst du damit sagen, daß Schwester Buan mich angelogen hat?«
Ihr Schulterzucken ließ alles offen.
»Das ist keine Antwort«, reagierte Fidelma scharf.
»Der Ehrwürdige Cináed und ich liebten uns.«
»Ihr habt euch geliebt? Kannst du diese Behauptung erhärten?«
|174| Zorn flammte in den Augen der Schwester auf. »Magst du nicht glauben, daß eine solche Beziehung möglich war?«
»Das will ich damit nicht sagen. Was ich sage, ist, daß angesichts der sechzig Jahre Altersunterschied zwischen euch die Sache einer Erklärung bedarf. Was ich in Frage stelle, ist folgendes: Du bist jung, Sinnchéne, bist ein attraktives junges Mädchen, stehst in der Blüte deiner Jugend. Was solltest du für einen gebrechlichen, alternden Mann wie den Ehrwürdigen Cináed, der offensichtlich auch nicht bei bester Gesundheit war, empfinden?«
Verächtlich rümpfte die junge Frau die Nase und schwieg.
»Liebe?« versuchte Fidelma in sie zu dringen, und als das Mädchen weiterhin schwieg, fuhr sie fort: »Was hat es mit dem Phänomen ›Liebe‹ auf sich? Ist die Liebe imstande, die natürlichen Schranken, die Jugend und Alter voneinander trennen, zu überwinden?«
»Wieso nicht?« war die schnippische Antwort. »Warum ist das so schwer zu glauben?«
Jetzt war es Fidelma, die ein, zwei Augenblicke Bedenkzeit
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