Tod vor der Morgenmesse
läßt man das Beutegut in der Festung zurück, Tor und Tür weit offen, so daß jedermann – wie wir ja auch – hineingehen und es entdecken kann?«
»Berechtigte Fragen«, stimmte ihm Fidelma zu.
»Nur wer beantwortet sie uns?« drängte Conrí.
»Soviel jedenfalls steht fest, wer das Verbrechen hier begangen |264| hat, ist sich äußerst sicher und fürchtet niemanden in der Umgebung«, schlußfolgerte Eadulf. Alle schwiegen, und er fuhr fort: »Es gab nur einen einzigen Menschen, der solche Macht hatte und derart anmaßend und selbstsicher war …« Eadulf verstummte und machte eine hilflose Geste, ehe er weitersprach. »Aber ich habe ihn sterben sehen. Und damit gibt es nur einen unangefochtenen Gebieter in diesem Land.«
»Slébéne!« brummte Conrí.
»Wer sonst käme in Frage?« wiederholte Eadulf seinen Verdacht mit anderen Worten.
»Nur die, denen Unrecht geschehen ist, dürfen in der Nacht des Samhain-Festes aus dem Jenseits zurückkehren und Rache nehmen an den Lebenden im Diesseits«, überlegte Conrí. »Uaman aber ist nicht Unrecht geschehen, als er hier zu Tode kam, wenngleich er selbst vielen anderen Leid zugefügt hat; eine Rückkehr in der Samhain-Nacht ist ihm folglich verwehrt. Eadulf hat recht, der Mann, vor dem wir uns hüten müssen, ist Slébéne.«
Beunruhigt tastete Fidelma mit den Augen die verlassene Insel ab; ein kalter Windzug streifte sie und ließ sie frösteln.
»Hier im Land der Corco Duibhne scheint vieles im argen. Aber bevor wir Slébéne anklagen, brauchen wir Beweise.«
Eadulf war enttäuscht, daß Fidelma ihn nicht in seiner Auffassung unterstützte, da doch ganz offensichtlich Slébéne derjenige war, den die volle Schuld traf. »Eine andere Schlußfolgerung verbietet sich«, erklärte er entschieden.
»Schon möglich, aber für mich ist ausschlaggebend, daß an der Beweisführung nicht zu rütteln ist; anders kann ich nicht vor die Brehons treten.« Sie ließ Conrí, der etwas sagen wollte, nicht zu Worte kommen. »Vertagen wir das Thema, bis Fakten auf dem Tisch liegen; Spekulationen helfen nicht weiter.«
Ein erneuter kalter Lufthauch umfing sie. Prüfend sah |265| Eadulf auf das dunkel werdende graue Meer und seine unruhigen Wellen. Es wurde spät.
»Die Flut ist im Kommen«, sagte er. »Wir sollten uns auf den Weg machen und über die Sandbank zum Festland zurückkehren; ehe wir uns versehen, ist es Abend, und wir sind abgeschnitten.«
»Und was wird mit den Sachen im Lagerraum? Was mit dem Gold?« fragte Conrí.
»Das muß erst mal alles bleiben, wo es ist. Unsere vornehmliche Aufgabe besteht darin, die verschollenen Frauen zu finden«, gab Fidelma barsch zurück. »Um das Beutegut können wir uns später kümmern.«
Der Rückweg war etwas leichter. Sie konnten sich an die eigenen Fußspuren im feuchten Sand halten, die sie sicher über die Dünen zum festen Ufer geleiteten. Als sie die Insel hinter sich ließen, färbte sich der Himmel schon dunkel, und sie hörten das unheilvolle Rauschen des Meeres. Die Flut stieg, bald würden die Wogen ans Ufer donnern.
»Es bleibt nur noch wenig Zeit bis zur Dunkelheit. Ich würde gern sehen, wo genau man den Leichnam der Äbtissin gefunden hat.«
Sie suchten ihre Pferde, banden sie los, und Conrí führte sie ein kurzes Stück den Weg entlang, dann leicht bergan durch eine Baumgruppe, und schon hatten sie die schwarzen Umrisse einer konisch zulaufenden Steinhütte vor sich.
»Mugrón hat die Klosterfrau vor dem
coirceogach
entdeckt, hat sie dann hinter die Hütte gezerrt und unter dem Schnee verscharrt, damit sie nicht Schaden nimmt, und ist nach Ard Fhearta geeilt, um uns von dem Geschehen in Kenntnis zu setzen.«
Fidelma stieg vom Pferd und schaute sich um. Sie mußte einsehen, daß sie hier kaum neue Erkenntnisse gewinnen |266| würde. Zu lange Zeit war verstrichen, und zu viele Menschen waren inzwischen hier gewesen. Außerdem war seit dem Vorfall wiederholt Schnee gefallen, und der verbarg alles. Wiederum war es nicht die Hoffnung gewesen, auf etwas entscheidend Neues zu stoßen, weshalb sie diesen Ort hatte in Augenschein nehmen wollen. Sie mußte ihn einfach selbst erleben und die Atmosphäre des Tatorts erspüren, das würde es ihr später leichter machen, sich das begangene Verbrechen vorzustellen. Aufmerksam schaute sie in die Runde. Von der Insel aus konnte man den Fleck hier oben nicht erspähen, denn der Weg hatte eine Biegung gemacht.
Fidelma bückte sich und betrat die Steinhütte. Dort fanden
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