Tod vor der Morgenmesse
aber Fidelma nickte ihm freundlich zu.
»Wir wollen deinen Bogen nicht, Iobcar«, beruhigte sie ihn und bedeutete Conrí, ihn dem Kind zu geben. »Auch sollst du uns nicht verraten, wohin deine Leute gegangen sind. Was wir aber gern wissen möchten, ist, warum sie keinen anderen Ausweg sahen und das Dorf räumten.«
|272| Der Junge nahm seinen Bogen. Nachdenklich sah er Fidelma an.
»Als Uaman noch unten auf der Insel wohnte, hat mein Vater immer gesagt, er sei für unsere Leute der große Fluch. Ständig haben seine Männer unser Dorf überfallen, haben sich Schafe und Ziegen und … Na ja, auch anderes mitgenommen. Vor zwei Monden etwa hieß es dann, er wäre tot, und da sind die Dorfbewohner runter zur Insel, haben seine Festung in Brand gesteckt und sich zurückgeholt, was ihnen gehörte.«
Geduldig warteten sie, als er eine Pause machte und sich zu konzentrieren suchte.
»Vor kurzem tauchten Uamans Männer wieder hier auf und forderten im Namen ihres Herrn Tribut. Die Dorfältesten gaben her, was sie konnten. Bald danach ging mein Vater zur Insel und berichtete, daß die gleichen Männer dort unten ein Schiff zum Scheitern gebracht hätten. Der Ältestenrat kam zusammen und beschloß, daß sich alle Dorfbewohner gemeinsam auf die andere Seite der Berge zurückziehen. Ungefähr vor einer Woche haben wir uns auf den Weg gemacht, wir mußten eine andere Bleibe finden. Gestern dann merkte ich, daß ich Pfeil und Bogen vergessen hatte und bin heute hierher, um sie zu suchen. Gerade als ich sie gefunden hatte, hörte ich euch rufen und dachte, ihr gehört zu Uamans Leuten. Da hab ich mich rasch in der
uaimh talún
versteckt, aber ihr habt das gemerkt.«
»Das also ist deine Geschichte. Wir haben nichts Böses im Sinn«, sagte Fidelma, »wollen weder dir noch den Deinen Leid zufügen. Wir gehören nicht zu Uaman. Aber es ist schon spät; am besten du ißt etwas mit uns und bleibst hier. Morgen früh kannst du dann frisch und ausgeschlafen zu deinen Leuten zurückkehren.«
Der Junge zögerte.
|273| »Sie werden sich Sorgen machen.«
»Aber noch größere Sorgen, wenn du die Berge in pechschwarzer Nacht durchquerst, Iobcar, Sohn von Starn, dem Hufschmied«, gab sie ihm zu bedenken.
Iobcar überlegte eine Weile. Schließlich nickte er, denn der Geruch des Kaninchenbratens stieg ihm verführerisch in die Nase.
Conrí begann, Fleischportionen zurechtzuschneiden und zu verteilen. Eadulf war begierig, dem Jungen noch weitere Fragen zu stellen, hielt sich aber zurück, bis der es sich bequem gemacht hatte und behaglich an dem Fleisch kaute.
»Weißt du eigentlich irgend etwas über die Männer, die dein Vater Uamans Leute nannte?«
»Nur, daß mein Vater immer sagte, sie wären böse Menschen«, kam die Antwort aus vollem Mund.
»Ist dir was davon zu Ohren gekommen, daß sie hier irgendwo in der Nähe fromme Schwestern umgebracht haben?«
Kopfschütteln.
»Aber als mein Vater von der Insel zurückkehrte, hat er erzählt, er hätte Krieger gesehen, die Frauen als Gefangene abführten.«
Eadulf wechselte einen raschen Blick mit Fidelma.
»Frauen als Gefangene? War das, als er auch davon erzählte, daß sie ein Schiff zum Kentern gebracht hatten?«
»Genau«, bestätigte der Junge.
Triumphierend blickte Eadulf zu Fidelma.
»Und in welche Richtung führten Uamans Männer die Gefangenen? Richtung Osten zur Abtei von Colmán oder Richtung Westen nach Daingean, zur Festung des Fürsten der Corco Duibhne?«
Nachdenklich krauste der Kleine die Stirn.
|274| »Weder noch. Mein Vater sagte, sie zogen nach Norden.«
»Nach Norden in die Berge?« fragte Conrí verblüfft.
»Sie zogen am Gebirgstal entlang bergan, da wo der Imligh fließt«, bestätigte der Zwölfjährige. »Das heißt also, nach Norden.«
»Den Weg kenne ich«, wandte sich Eadulf an Fidelma. »Da sind wir auf der Suche nach Alchú entlanggeritten.« Seine Stimme war von besonderer Eindringlichkeit, aber das spürte nur sie; er durchlebte in diesem Moment noch einmal seine verzweifelte Suche nach ihrem entführten Sohn.
»Dann kommt auch morgen für uns kein anderer Weg in Frage«, sagte sie mit einer Entschiedenheit, die keinerlei Widerspruch zuließ. Als sie und Eadulf später endlich allein waren, berührte sie sanft seinen Arm. »Erinnerungen können weh tun, ich weiß. Aber jetzt ist unser Sohn in Cashel in sicherer Obhut. Muirgen und Nessán behüten Alchú, als wäre er ihr eigenes Kind. Laß uns die Sache hier erst hinter uns bringen. Bald
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