Todesahnung: Thriller (German Edition)
Mann, der seit zwölf Jahren tot ist, mehr nicht.
Dann liegt es doch nicht am Objektiv. Beim neuen ist dasselbe passiert wie beim alten. Muss also die Kamera die Schuldige sein. Zumindest hoffe ich das.
Ich erinnere mich, dass mir Javier von Gotham Photo einmal seine Visitenkarte gab. Auf der Rückseite hatte er seine Mobilnummer notiert. Wahrscheinlich hoffte er, sich mit mir verabreden zu können. Aber er sagte auch, ich könne ihn jederzeit anrufen, wenn es Probleme mit meinen Aufnahmen gäbe.
Ich denke, ich habe Anlass genug dazu.
Die Frage ist nur, wo ich diese Visitenkarte hingelegt habe. Ich beginne mit meiner Brieftasche, blättere durch die Kreditkartenbelege, meine AmEx, Visa, Discover und den Führerschein und eine Rabattkarte für ein Café.
Javiers Visitenkarte ist nicht dabei.
Ich suche in den Schubladen in meinem Schlafzimmer, auch in meinem Nachttisch. Es ist erstaunlich, wie viel Müll ich anhäufe. Muss ich wirklich aus jedem Restaurant, in dem ich esse, ein Streichholzschächtelchen mitnehmen?
Komm schon, o du Visitenkarte, zeig dich!
Ich versuche, mich an die Situation zu erinnern, als er sie mir gegeben hat. Wann war das, zu welcher Jahreszeit?
Im Winter!
Vielleicht steckt sie noch in der Manteltasche. Ja, klar, ich weiß sogar noch, in welchem Mantel - ein hübscher »Den musste ich einfach haben« aus dem Schaufenster von Saks, für den ich eine Menge Geld hingeblättert habe. In dem Monat konnte ich mir nur noch Thunfischbrötchen zum Abendessen leisten, erinnere ich mich.
Ich erinnere mich auch an das Kompliment, das mir Javier wegen des Mantels machte - als er mir seine Karte gab.
Beeindruckt von meinem Gedächtnis, gehe ich zum Flurschrank. Vielleicht bin ich doch noch nicht ganz neben der Spur.
Mit etwas Glück werde ich Javier erreichen, und wir können uns treffen. Ich werde ihm die Bilder zeigen, er wird sich meine Kamera vornehmen und mir sagen, was mit ihr nicht stimmt. So einfach ist das. Das Rätsel löst sich.
Doch eins nach dem anderen - zuerst seine Visitenkarte.
Ich öffne die Schranktür.
Zumindest versuche ich es. Der Knauf dreht sich zwar, aber die Tür klemmt. Mamma mia. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, dass ich den Schrank öffnen möchte.
Aber ich muss, also ziehe ich kräftiger und mit beiden Händen am Knauf. Es ist, als wäre die Tür von innen abgeschlossen, aber wie soll das gehen? Dieser Schrank war noch nie abgeschlossen. Wer sollte so etwas tun?
Ich umklammere den Knauf noch fester und zerre mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft daran, bis mir die Schultern schmerzen.
Langsam gibt die Tür nach - bis sie auffliegt.
Ich blicke hinein.
O nein! O Gott! Bitte hilf mir!
Und dann schreie ich mir die Lunge aus dem Hals.
45
»Kristin, wach auf! Wach auf!«
Ich öffne die Augen und blicke mich verwirrt und erschöpft um. Und wie versteinert. Alles um mich herum ist verschwommen. »Wo bin ich?«
»Bei mir zu Hause«, antwortet Connie. »Auf dem Planeten Erde.« Sie sieht mich besorgt, geradezu verängstigt an.
»Ist mit dir alles in Ordnung?«, frage ich sie.
»Ob mit mir alles in Ordnung ist?« Connie schüttelt ungläubig den Kopf. »Mein Gott, so, wie du geschrien hast, dachte ich, jemand will dich umbringen!«
Das Sonnenlicht dringt durch die Vorhänge. Es ist Morgen, und ich liege auf dem Gästesofa in Connies Wohnzimmer auf der Upper East Side, so viel wird mir klar. Alles andere steckt noch hinter einer Nebelwand.
»Ich … erinnere … mich nicht.«
»Du bist gestern Abend völlig hysterisch hier aufgekreuzt«, erklärt Connie. »Du hast ständig von diesem Traum und Bildern erzählt, die du aufgenommen hast - ach, und von dem Flurschrank. Klingelt’s jetzt bei dir?«
»Die Kakerlaken …«
»Ja, du hast gesagt, eine Million dieser Dinger wären da drin gewesen. Allein vom Zuhören hat es mich geekelt.«
Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Im Schrank wuselte es nur so vor Kakerlaken. Vielleicht waren es keine Million, aber tausend bestimmt, und ich habe eine Todesangst vor Kakerlaken. Sie sind mir übers Gesicht und in mein Haar gekrabbelt. Der Rest meiner Erinnerung fehlt.
Connie ergreift meine Hand. »Du warst ja so von der Rolle, Schätzchen«, erklärt sie. »Ich habe dir zwei Beruhigungstabletten gegeben und dich ins Bett gesteckt. Du bist gleich eingeschlafen und hast die ganze Nacht keinen Pieps mehr von dir gegeben.«
Bis jetzt.
Das Hotel, die vier Rolltragen, die Hand.
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