Todesahnung: Thriller (German Edition)
malos!«, kreischt die Alte und stampft mit den Füßen.
»Was sagt sie denn die ganze Zeit?«, will ich wissen, als ich langsam zur Tür gehe.
»Es ist Schwachsinn«, beruhigt mich Javier. »Mach dir keine Sorgen.«
»Doch, ich will es wissen. Sag’s mir.«
Seine Mutter beginnt zu zucken, als säße sie auf dem elektrischen Stuhl. Sie beißt sich so fest auf die Unterlippe, dass sie blutet. Mein Gott!
»Mamá!«, ruft Javier.
Immer noch stößt die alte Frau ihren Finger in meine Richtung.
»Espíritus malos! Espíritus malos!«
»Kristin, ich schaue mir deine Bilder ein andermal an. Auf der Arbeit. Du musst jetzt wirklich gehen!«
Aber ich kann nicht. »Erst wenn du mir erzählst, was sie sagt. Ich will es wissen!«
Er wirkt verärgert über meine Sturheit, wenn nicht gar über meine Anwesenheit.
»Komm schon, Javier, sag’s mir!«, flehe ich ihn an. Dann tut er es endlich.
»Espíritus malos - meine Mutter sagt, du seist von bösen Geistern besessen. Sie hält dich für den Teufel.«
61
Ich bin so verwirrt, dass ich, als ich aus dem Haus stürme, beinahe längs auf den Bürgersteig schlage. Kopfschüttelnd stolpere ich etwa einen Straßenblock weiter.
Was ist da gerade passiert? Warum bin ich der Teufel? Ich?
Das Bild von Javiers Mutter taucht immer wieder vor mir auf, ihre Schreie hallen in meinem Kopf. Espíritus malos! Espíritus malos!
Und wieder ermahne ich mich, mich zusammenzureißen. Doch zum ersten Mal bin ich mir nicht sicher, dass ich das kann.
Espíritus malos … ich bin ein Teufel .
Zu all den Fragen, die sich mir stellen, gesellt sich eine andere: Wo bin ich?
Ich bin immer weitergelaufen, ohne auf die ungewohnten Straßen oder die Richtung zu achten. Es ist fast dunkel.
Ich bleibe stehen und krame in meiner Umhängetasche, wo ich die Bilder zur Seite schiebe, die ich vor dem Verlassen der Wohnung noch schnell eingesteckt habe. Als Nächstes suche ich in meinen Jacken- und Hosentaschen, kann den Zettel mit Javiers Wegbeschreibung aber nirgendwo finden.
Na toll. Ich habe mich in Brooklyn verlaufen.
»Entschuldigung«, spreche ich die nächste Person an, die mir begegnet, eine junge Frau mit Rucksack. Sie kann nicht älter als zwanzig sein. »Können Sie mir sagen, wo es zur U-Bahn-Linie F geht?«
Sie geht kaum langsamer. »Tut mir leid, ich bin nicht von hier.«
Das gilt für uns beide.
Ein Stück weiter die Straße entlang sehe ich einen älteren, vielleicht über siebzigjährigen Mann, der auf einer Veranda sitzt und die Daily News liest.
»Die Linie F?« Er deutet über seine Schulter. »Zuerst müssen Sie umdrehen.«
Genau das tue ich, als er anfängt zu erzählen, wo überall ich rechts und links abbiegen muss. Ich passe so gut auf, wie ich kann. Hat er zweimal links und dann rechts gesagt oder einmal links?
Ich will ihn gerade bitten, seine Beschreibung zu wiederholen, als ich etwas sehe, was ich nicht sehen will.
Eigentlich ist es ein Jemand. Ein Mann.
Es mag zwar bereits dämmern, aber ich sehe ihn so deutlich wie im Tageslicht. Die Dunkelkammer macht sich bezahlt.
Eine Sekunde später schiebt er wieder seinen Kopf hinter dem weißen Lieferwagen hervor, der an der Ecke in zweiter Reihe parkt. Sein Gesicht brauche ich nicht zu sehen.
Sein Pferdeschwanz reicht.
62
»Hey, junge Frau, Sie gehen schon wieder in die falsche Richtung!«, ruft mir der Alte auf der Veranda hinterher.
Nein, nicht in die falsche Richtung. Sich in Brooklyn zu verlaufen, ist eine Sache. Sich umbringen zu lassen eine andere.
Ich renne nicht, sondern gehe eher ziemlich schnell. Nervös blicke ich über meine Schulter nach hinten.
Pferdeschwanz sehe ich nicht mehr, was mir aber nur noch mehr Angst einjagt, weil ich mir sicher - wirklich sicher - bin, dass er es war. Will er mich erneut warnen? Oder ist es mit den Warnungen jetzt vorbei?
Als ich um die Ecke biege, gehe ich noch schneller. Ich muss einen Polizisten oder jemanden finden, der groß genug ist, um mich zu beschützen. Besser noch jemanden, der kugelsicher ist. Doch ich sehe nur eine leere, von Geschäften und Müllhaufen gesäumte Straße vor mir und niemanden, der mir helfen könnte.
Ist Pferdeschwanz hinter mir her? Wieder blicke ich mich um.
Ich sehe nicht, ob er mich verfolgt. Noch nicht.
Doch die Schatten verschwinden. Das ist übel. Mit jeder Sekunde wird es dunkler.
Ich behalte die Straßenecke hinter mir im Auge, bis ich schließlich mitten auf der Straße stehen bleibe.
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