Todesakt: Thriller (German Edition)
Schulterblättern, als sie die beiden Nachbarhäuser betrachtete. Ihr erschien es seltsam, dass die beiden Familien weiterhin Tür an Tür wohnten. Nach allem, was geschehen war, verstand sie nicht, warum niemand auf den Gedanken gekommen war, sein Haus zu verkaufen und seine Zelte abzubrechen. Obwohl man zehn Straßen weiter im Landesinneren einen besseren Meerblick hatte, standen die beiden im typisch kalifornischen Stilmischmasch auf zwei Etagen aufgeblasenen Bungalows mit Veranda und Wintergarten auf Filetgrundstücken, die außerdem Platz für eine Einfahrt und Garagen boten. Soweit Lena vom Gehweg aus feststellen konnte, gehörten sogar kleine Gärten dazu. Also waren diese Häuser doch gewiss nicht schwer an den Mann zu bringen.
»Wir hätten Tito mitnehmen sollen«, sagte Rhodes.
»Warum?«
»Schau.«
Sie folgte seinem Blick über Gants Einfahrt hinweg zu Tim Hights Haus, wo sie im Wohnzimmerfenster eine Gestalt ausmachen konnte. Als sie sich dem Lattenzaun näherte, sah sie Hight, noch voll bekleidet, der sich am Küchentresen einen Drink einschenkte. Selbst aus der Entfernung erkannte sie die Flasche an ihrer blauen Farbe. Hight goss Wodka in ein sehr großes Glas.
»Es ist fünf Uhr«, stellte sie fest. »Es geht doch nichts über einen Cocktail nach einem langen Arbeitstag.«
Rhodes trat einen Schritt vor.
»Killen und Chillen, Lena. Der Mann hat offenbar eine Stärkung nötig.«
»Hast du die Zigaretten mitgebracht?«
»Nein, die habe ich auf dem Tresen liegen gelassen. Aber er scheint welche zu haben.«
Lena beobachtete, wie Hight sich eine Zigarette anzündete und nach seinem Glas griff. Beim Verlassen der Küche betätigte er den Lichtschalter, und es wurde dunkel im Haus. Kurz darauf bemerkte sie die glühende Spitze seiner Zigarette. Das Lichtpünktchen bewegte sich durchs Wohnzimmer in den seitlich am Haus gelegenen Wintergarten. Lena erkannte seine Silhouette durch die Scheibe. Vermutlich tauchte die LED-Anzeige eines Radios oder Kabelreceivers den Raum in ein gedämpftes Licht. Als Hight sich an die Fenster mit Blick aufs Nachbarhaus setzte, glomm seine Zigarette immer wieder auf. Der Mann rauchte und trank und ließ wahrscheinlich die letzten drei Stunden Revue passieren. Es war anzunehmen, dass er sich auch an alles erinnerte, was im vergangenen Jahr geschehen war – an die Bilder, die er nun sein Leben lang mit sich herumtragen musste.
Die Liebe zu seiner Tochter – dann ein Schwenk zu ihrer Leiche auf dem Boden in ihrem Zimmer. Die Justitia mit den verbundenen Augen, an der er dreimal täglich vorbeigegangen war – dann ein Schwenk zu einem gescheiterten Prozess mit katastrophalem Ergebnis. Er hatte so lange wie möglich durchgehalten, bis er schließlich unter dem Druck zusammengebrochen war und Jacob Gant die Augen ausgeschossen hatte.
Die Gerechtigkeit ist blind.
Lena hörte ein Ticken und bemerkte Hights Auto unter einer Eiche. Ein schwarzer Mercedes, der offenbar nach einer schnellen Fahrt durch die heiße Nacht abkühlte. Sie wandte sich wieder zu Rhodes um.
»Ich glaube, ich sollte allein reingehen und mit Gant reden«, flüsterte sie. »Du bleibst draußen und behältst diesen Typen im Auge.«
»Bist du sicher?«
Sie nickte und schaute wieder zu Hights geisterhafter Silhouette im Fenster hinüber.
»Vielleicht hat er genug für heute. Könnte aber auch sein, dass er noch etwas plant. Jedenfalls ist mir der Kerl nicht geheuer.«
»Mir auch nicht«, erwiderte Rhodes.
Die Tür öffnete sich zögernd. Auf der Schwelle stand ein achtzehnjähriger Junge, den Lena vom Prozess als Jacob Gants Bruder Harry wiedererkannte. Anstatt sich die Dienstmarke in ihrer Hand anzusehen, rief er nach seinem Vater, ohne den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden.
»Sie sind da, Dad.«
Der Vater antwortete nicht. Als der Junge nach links zeigte, folgte Lena ihm durchs Esszimmer in die Küche. William Gant saß, im Bademantel und eine Tasse Kaffee vor sich, am Küchentisch. Bei Lenas Eintreten hob er die Hand, als wolle er sie zum Stehenbleiben auffordern.
»Mr Gant?«, begann sie. »Ich bin …«
Er unterbrach sie mit einer Handbewegung.
»Wissen Sie was, Detective, es ist mir eigentlich egal, wer Sie sind. Falls Sie vorhaben, mir mitzuteilen, dass Jake tot ist, kommen Sie mehr als anderthalb Stunden zu spät. Und die Mühe, mir Ihr Beileid auszusprechen, können Sie sich ebenso sparen. Ich will es nicht hören. Und ich glaube, Jakes Bruder will es auch nicht. Sie können nichts mehr
Weitere Kostenlose Bücher