Todesdrang: Thriller (German Edition)
eine seltsame Eigendynamik zu entwickeln, auf die er keinen Einfluss mehr nehmen konnte. Der für ihn schlimmste Fall war eingetreten: Er hatte die Kontrolle verloren.
Verflucht! Wie hatte das nur passieren können? Er hatte doch alles genauestens durchdacht und nichts dem Zufall überlassen. Und dennoch lief alles schief, folgte nicht den festgelegten Regeln. Den Fehler, der dafür verantwortlich war, konnte er einfach nicht finden. Das entsprach nicht seiner Art von Logik, widersetzte sich seinem mathematischen Verstand, der nach klaren Prinzipien funktionierte. Ein oder aus, eins oder null, Reaktion und Gegenreaktion … Das alles ließ sich bestimmen, und selbst die Wahrscheinlichkeit war kein zufälliger Faktor. Auch sie ließ sich anhand von Regeln definieren und beziffern. Er musste also etwas in seinen Berechnungen übersehen haben. Aber was?
Immerhin hatte er noch ein Ass im Ärmel, falls alle Stricke reißen sollten. Dennoch fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren, zumal aus dem Zimmer nebenan Geräusche zu ihm drangen.
Aus dem Zimmer seiner Mutter.
Die Schwester des mobilen Pflegedienstes, die dreimal in der Woche nach ihr sah, war vor zwanzig Minuten eingetroffen. Einerseits war er froh über diese Hilfe, denn das tägliche Wechseln der Windeln war etwas, worauf er bei aller Liebe zu seiner Mutter getrost verzichten konnte. Doch heute kam ihm dieser Besuch äußerst ungelegen und steigerte seine innere Unruhe noch zusätzlich. Und mit ihr die Wut über den hilflosen Zustand seiner Mutter. Zumal er sich einredete, bis zu einem gewissen Grad mitschuldig an diesem Zustand zu sein, da er glaubte, dass er ihn hätte verhindern können.
Seine Mutter war es gewesen, die immer zu ihm gehalten und sich gegen seinen Vater gestellt hatte. Und ihr eigener Sohn war nicht in der Lage gewesen, sie vor ihm und seinem Jähzorn zu schützen. Immer wieder hatten sie sich seinetwegen gestritten, und während er die Zeilen vor ihm überflog, die er Jahre zuvor geschrieben hatte, kamen die Bilder und Gedanken aus dieser Zeit zurück, die er in den dunkelsten Tiefen seiner Erinnerung begraben hatte und die nun wie ein alter Film vor seinen geschlossenen Augen abliefen. Wie ein stiller Beobachter sah er sich selbst, wie er im Bett seines Zimmers lag, den Kopf in seinem Kissen vergraben, sodass die aufbrausenden Stimmen nur noch gedämpft von der Küche herauf an sein Ohr drangen …
»Du warst es doch, die ihm diesen dämlichen Computer geschenkt hat«, schrie sein Vater. »Seitdem hockt er nur noch vor diesem Kasten und kümmert sich um gar nichts mehr!«
»Hast du ihm dabei denn schon mal zugesehen?«, sagte seine Mutter. »Hast du dich in letzter Zeit überhaupt einmal mit deinem Sohn beschäftigt? Er hat ein unglaubliches mathematisches Talent und ist technisch sehr begabt. Er hat das Zeug dazu, aus seinem Leben etwas zu machen.«
»Mir wäre es bedeutend lieber, er hätte das Zeug dazu, mir im Laden zu helfen. Dann könnte ich mir das Geld für eine Halbtagskraft sparen!«
»Ja, damit du mehr Zeit dafür hast, dich um deine Kassiererin zu kümmern, nicht wahr?«
»Jetzt hör aber auf! Nicht das schon wieder!«
»Glaubst du etwa, ich weiß nicht, was du mit dieser Schlampe nach Ladenschluss treibst?«
»Nichts! Wie oft soll ich dir das noch sagen?«
»Und wie kommt dann ihr Parfüm an deine Klamotten?«
»Wir haben uns nur umarmt, sonst nichts!«
»Ja, sicher!«
»Jetzt lenk nicht wieder vom Thema ab! Es geht hier nicht um mich!«
»Das wäre ja mal ganz was Neues!«
»Hör zu«, sagte sein Vater, und seine Stimme wechselte nun in eine bedrohlichere Tonlage. »Ich reiße mir sechs Tage in der Woche den Arsch für euch auf, da kann ich von unserem Sohn ja wohl erwarten, dass er mir gelegentlich mal zur Hand geht!«
»Ihm steht nun mal der Sinn nach etwas anderem, und ich finde, wir sollten ihm diese Chance nicht verbauen! Er will nächstes Jahr auf die Uni.«
»Und wer bitte schön soll das bezahlen? Dafür ist meine Arbeit wohl gut genug, was?«
»Ich werde mir eine Halbtagsstelle suchen!«
»Und wer kümmert sich dann um die Buchhaltung?«
»Das mache ich anschließend.«
»Vielleicht solltest du damit aufhören, ihn so zu bemuttern. Er muss lernen, selbst zurechtzukommen.«
»Das tut er ja!«
»Ach ja? Hat er überhaupt Freunde? Trifft er sich mit jemandem?«
»Er hat viele Bekannte im Internet.«
»Das ist nicht dasselbe!«
»Wie gesagt, ihm steht nun mal der Sinn nach etwas
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