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Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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und hob die Schultern.
    »Also ehrlich, das sehe ich zum ersten Mal«, fuhr Enno fort und richtete sich mit hochrotem Kopf auf. »Ich … Wir fassen diese Dateien nie direkt an. Über die Shell, meine ich. Wir verwalten alles über das Archivsystem, mit dem wir die Dateien verschlagworten, abrufen und ablegen. Anders würde man ja auch jede Übersicht verlieren. Ich habe mir noch nie Gedanken gemacht, wie das System die Dateien eigentlich ablegt. An so etwas fummelt man als User sowieso besser nicht herum.«
    »Was sagen Sie dazu?«, verlangte der Innenrevisor von dem IT-Mann zu wissen.
    Der kratzte sich den schlecht rasierten Hals. »Tscho. Das kommt schon vor. Manche Leute programmieren, dass es der Sau graust.«
    »Was heißt das konkret? Wer hatte nun Zugriff auf die Videodatei?«
    »Jeder.«
    »Was heißt jeder?«
    Der IT-Mann machte eine umfassende Handbewegung. »Jeder mit einem Account für das interne Computersystem.«
    Der Revisor sah ihn ungläubig an. »Das sind mindestens dreitausend Leute!«
    »Tscho«, meinte der Spezialist. »Da kann man nichts machen.«
    Einen Moment lang war es totenstill. Alle sahen sich so ratlos an, als sei ihnen gerade geschlossen gekündigt worden.
    Dann strich sich Staatsanwalt Ortheil die blonden Locken aus der Stirn und sagte: »Von wegen. Da kann man sehr wohl etwas machen.« Er zog sein Telefon aus der Tasche seines Jacketts, das heute taubenblau war. »Nur halt was Vernünftigeres, als an Computern rumzufummeln.«
    Mittags kam Ingo zu früh in der Brunnerstraße an, weil er es nicht mehr ausgehalten hatte, zu Hause zu warten. Um die Zeit herumzukriegen, las er die Schlagzeilen am Kiosk an der Ecke. Sein Video machte Furore, es war unglaublich. Und seltsam unwirklich, eine Zeitung in die Hand zu nehmen, den mit Eine überfällige Diskussion betitelten Leitartikel zu lesen und erst nach ein paar Absätzen zu merken, dass es darin um ihn ging, dass der Leitartikler ihn und seine Sendung lobte!
    Sein erster Impuls war, die Zeitung zu kaufen, aber dann sagte er sich, dass das pure Eitelkeit sei, und ließ es. Doch als er, genau zur vereinbarten Minute, an Evelyns Haustüre klingelte, bedauerte er es schon wieder. Er würde sich die Ausgabe auf dem Heimweg holen, beschloss er.
    Kevin war marschbereit, aber skeptisch. Sehr, sehr skeptisch. Nicht so, dass Ingo ihn zur Haltestelle zerren musste, aber fast.
    »Ich glaub nicht, dass das was bringt«, maulte er, als sie in der U-Bahn saßen und Ingo ihn fragte, was los sei.
    »Probier es einfach aus«, meinte Ingo.
    »Das ist Sport. Ich hasse Sport.«
    »Es ist kein Sport. Judo oder so was wäre Sport. Krav Maga ist ein Selbstverteidigungssystem.«
    Kevins Gesicht verdüsterte sich. »Sie haben keine Ahnung, wie die sind.«
    Ingo sah auf den Jungen hinab, fragte sich, ob er damals auch so unglücklich gewirkt hatte. »Du meinst, wenn du erst mal anfängst, dich zu wehren, kriegst du erst richtig Dresche?«
    Kevin sagte nichts, sah nur beiseite.
    »Ich glaube schon, dass ich eine Ahnung habe, wie die sind«, fuhr Ingo fort. »Diese Typen sind irgendwie zu allen Zeiten gleich.« Eine Erinnerung flammte in ihm auf, zusammen mit einer Empörung, so heiß, als habe es sich erst gestern zugetragen. »In meiner Klasse war einer, der mir immer, wenn er an mir vorbeigelaufen ist, eine Kopfnuss verpasst hat. Einfach immer. Es hat ihm Spaß gemacht zu sehen, wie ich mich wegzuducken versuche. Das ging jahrelang so. Es ist ihm nie langweilig geworden.«
    »Und was haben Sie gemacht?«
    »Nichts«, gestand Ingo mit Bitterkeit auf der Zunge. »Mich hat nie jemand zu so etwas wie Krav Maga mitgenommen. Ich wusste gar nicht, dass es das gibt.«
    Kevin sagte nichts, wirkte aber eine Spur weniger skeptisch als zu Anfang.
    »Einmal habe ich nach seinem Arm geschlagen«, erinnerte sich Ingo. »Aber ausgerechnet das hat unser Klassenlehrer gesehen und mich bestraft! Ich musste fünf Seiten aus dem Englischbuch abschreiben und bekam einen Eintrag. Praise schlägt Mitschüler .«
    »Ungerecht«, befand Kevin.
    Ingo sah alles wieder vor sich. Sah den abgewetzten braunen Teppichboden im Klassenzimmer, roch den Geruch nach Kreide, Leberwurstbroten und muffig-feuchten Regenjacken, der die Gänge des Schulhauses erfüllte, hörte die höhnische Stimme des Jungen, der älter und größer und stärker gewesen war und ihm von da an jede weitere Kopfnuss mit einer Erinnerung an diese Schmach serviert hatte. »He, Praise! Nicht wieder Mitschüler schlagen,

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