Todesengel: Roman (German Edition)
Blonden, die so etwas wie die Anführerin der Clique ist. »Das nächste Mal«, verspreche ich ihr flüsternd, »seid ihr fällig.«
Ich warte, bis ich sehe, wie sie begreift. Ich warte, bis ich Angst in ihren Augen lese. Dann sage ich: »Haut ab.«
Das bricht den Bann. Sie hasten davon, keuchend, japsend, auf Stöckelschuhen, in denen man kaum gehen kann, geschweige denn rennen. Ich höre sie noch eine ganze Weile, spüre ihre Panik, ihr Entsetzen.
Ich schaue den Mann an, der aus der Nase blutet, aber noch steht. Er schwankt, nicht nur der Schläge wegen, sondern vor allem, weil er getrunken hat. Er keucht, ist erleichtert, will etwas sagen, weiß bloß nicht, was.
»Du erkennst mich nicht«, stelle ich fest.
»Doch!«, beeilt er sich mit schwerer Zunge zu versichern. »Du bist der Racheengel. Du bist der Retter der Hilflosen …«
»Ja«, sage ich. »Genau.« Ich betrachte ihn. Er tut mir nicht leid. Das, was ihm widerfährt, ist nur eine andere Form von Strafe. Auch an ihm geschieht, was unausweichlich geschehen muss. »Geh nach Hause«, sage ich.
Nach Hause. Auch ich will nach Hause gehen.
Das Problem ist: Ich habe keines.
Es war spät, als Ulrich Blier den Wagen am äußersten Ende des Parkplatzes abstellte. Am liebsten wäre er noch einen Moment einfach hinter dem Steuer sitzen geblieben, aber er fürchtete, einzuschlafen, und das durfte er sich jetzt nicht erlauben. Außerdem hatte er das Signal schon vor einer ganzen Weile gegeben; Theo würde längst auf ihn warten.
Er stieg aus. Der Wind rauschte, in der Dunkelheit der Nacht waren vielfältige Tierlaute zu hören. Der Truppenübungsplatz war ein Paradies für Tiere. Solange die Panzer nicht fuhren, verstand sich. Wobei sich inzwischen manche Wildtiere nicht einmal mehr durch Geschützdonner aus der Ruhe bringen ließen.
Ein Blick hinüber zum Wachhaus am Haupteingang, wo ein fahler Schimmer aus den Fenstern sickerte, um mit dem hellgelben Licht der Scheinwerfer über dem Platz zu verschmelzen. Hinter den Scheiben sah er eine Bewegung. Jemand, der nach ihm Ausschau hielt? Wohl nicht. Außerdem war sein schwarzer Mantel eine gute Tarnung.
Er schnupperte an sich, ehe er den Mantel zuknöpfte. Er roch verschwitzt, unzumutbar im Grunde. Tja. Vorbei. Obwohl es von Anfang an klar gewesen war, fühlte er einen leisen Schmerz deswegen.
Und es begann in seiner Erinnerung schon zu verblassen. Als wäre alles nicht wirklich geschehen, sondern nur ein Film gewesen, den er gesehen hatte. Es begann bereits, sich so tot anzufühlen, wie sein ganzes Leben sich anfühlte. In ein paar Wochen würde er daran zweifeln, das alles wahrhaftig erlebt, wahrhaftig getan zu haben.
Falls er dann noch lebte.
Theo wartete tatsächlich schon auf ihn, schloss ihm stumm auf. Als er ihm die Schachtel mit den Pralinen geben wollte – das übliche Mitbringsel, weil Theo für sein Leben gern Pralinen aß –, tat der, als sehe er das Päckchen gar nicht, wies es ab, als Ulrich es ihm noch einmal aufdrängte.
»Was ist?«, fragte er erstaunt. »Das sind gute! Fuhlsberg. Conditorei Deutschmann . Die besten zum Schluss.«
Theo sah die in weißes Papier gehüllte Schachtel an, als vermute er Rattengift darin. »Warst du wirklich bei einer Frau?«
»Ja. Klar.« Er ließ das Päckchen sinken. »Was ist los?«
»Ich hab gehört, dass gestern jemand von der Kripo beim Schermann war. Dass die dich sprechen wollten. Wollten wissen, wo du letzte Woche in der Nacht von Sonntag auf Montag warst, von Montag auf Dienstag. Und so weiter.«
»Was du immer hörst«, sagte Ulrich Blier unbewegten Gesichts.
»Ich war heute in der Bibliothek, hab in den Zeitungen nachgelesen. Du warst immer genau dann unterwegs, wenn dieser Racheengel zugeschlagen hat.«
Ulrich Blier schüttelte den Kopf. »Spinnst du jetzt?«
»Gute Frage, wer von uns beiden spinnt, würde ich sagen.« Theo fuchtelte mit seinen bleichen, langfingrigen Händen. »Schau dich einfach nur an. Wie du aussiehst. Wie nach einem Kampf. Also erzähl mir keinen Scheiß, okay?«
»Ich hab dir doch gesagt«, erwiderte Blier geduldig, »es ist eine sehr leidenschaftliche Frau. Und sie ist mit einem Weichei verheiratet, der nichts mit ihr anzufangen weiß. Da hat sich eben viel angestaut.«
»Die Story kannst du dir sparen.« Theos Kehlkopf hüpfte. Er bemühte sich, nicht laut zu werden; immerhin. »Weißt du, was dein Problem ist? Dass du immer alles in dich reinfrisst. Du hast eine Mauer um dich herum gebaut, hast abgeschlossen,
Weitere Kostenlose Bücher