Todeserklärung
Enttäuschung und sein Hass auf Gregor machen nur dann einen Selbstmord sinnvoll, wenn seine Leiche sofort entdeckt wird. Nur dann kann Sebastian Gregor Scherereien bereiten, Ärger mit der Polizei, Verdacht des Mordes an seinem Bruder und insbesondere seine Enterbung durch die bis zu diesem Zeitpunkt noch lebende und gesundheitlich einigermaßen intakte Esther. Warum kein Selbstmord mit einem Abschiedsbrief, den er am besten mehrfach kopiert und an alle geschickt hätte, die daraus Konsequenzen hätten ziehen können, allen voran an Esther! Wenn Sebastian schon aus dem Leben scheiden wollte, dann hätte er auf diese Weise Gregor gleichzeitig die Erbschaft nehmen können! Und vielleicht sogar Kirsten, die offensichtlich ein erhebliches wirtschaftliches Interesse und wohl auch die Erbschaft im Auge hat. Sebastian geht doch nicht einfach so! Ich glaube Gregor ohne weiteres, dass für ihn das lange ›Todeserklärungsverfahren‹ misslich ist. Er hat diese Konsequenz bestimmt nicht gewollt, aber sie ist die einzig mögliche, um überhaupt irgendwann an das Geld zu kommen, und zwar an das ganze Geld!
Betrachte Gregors Motivlage: Natürlich ging es ihm darum, Sebastians Erbteil mitzukassieren. Alleinerbe nach Esther zu sein, das wäre gewiss Gregors Hauptgewinn. Er bekäme ein gigantisches Vermögen, ohne es mit dem ungeliebten Bruder teilen zu müssen. Also: Dass Sebastian vor Esther starb, war wegen des komplizierten ›Todeserklärungsverfahrens‹, mit dem sich Gregor jetzt herumplagen muss, sicher nicht von ihm gewollt. Und Sebastians Motivlage: Hätte er einen Selbstmord gewollt und begangen, dann hätte er ihn aus den genannten Gründen nicht an einem Ort durchgeführt, an dem er wirklich verschwunden bleibt. Ganz im Gegenteil: Sebastian hätte gewissermaßen öffentlich Selbstmord begangen. Er hätte die Welt von seinem Ableben wissen lassen, insbesondere Tante Esther, die er über die Motive seines Selbstmordes in Kenntnis gesetzt hätte. Was also folgt daraus?«
Knobel wusste es nicht.
»Der Tod Sebastians vor demjenigen Esthers war aus irgendeinem Grunde aus Gregor Pakullas Sicht nicht zu umgehen. Er musste Sebastian töten, obwohl er es zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit nicht wollte. Was kann dazu geführt haben? Eine Auseinandersetzung, die eskaliert ist? Unwahrscheinlich. Die Brüder mochten sich nicht, aber sie hielten im Hinblick auf das in Aussicht stehende Erbe durch. Sie machten gemeinsam Urlaub, obwohl sie sich nichts zu sagen hatten. Sie waren zusammengeschweißt, obwohl sie einander verachteten. Die Aussicht auf das Geld verband sie. Kein einfacher Streit hätte sie entzweit. Ganz im Gegenteil: Sie hätten jede Meinungsverschiedenheit, sogar jede massive Auseinandersetzung, wenn sie sie überhaupt ausgetragen hätten, im Interesse der winkenden Erbschaft überstanden. Keiner wollte dem anderen Gutes, aber keiner hätte den anderen umgebracht.«
»Das heißt«, schloss Knobel an, »es war etwas geschehen, das so außergewöhnlich war, dass selbst diese hohe Hemmschwelle durchbrochen wurde.«
»Genau! Und das kann nur bedeuten, dass Sebastian deinen Mandanten Gregor in der Hand hatte, dass er ihn wirtschaftlich hätte vernichten können, mit anderen Worten also etwas wusste, das Esther entsetzt und zur Errichtung eines Testaments veranlasst hätte. Gerade das Gegenteil von Gregor Pakullas Zielvorstellung stand im Raum: Nicht Gregor, sondern Sebastian hätte Alleinerbe werden können. Das durfte natürlich nicht geschehen! Deshalb ein notwendiger Mord, wenn auch zur ungünstigen Zeit!«
»Ach Marie«, seufzte Knobel und gab zu, ihrer Argumentation nichts entgegensetzen zu können. »Ich glaube trotzdem, dass wir ihm Unrecht tun!«
»Wunderst du dich nicht über seine Rechtskenntnisse?«
»Doch«, gab Knobel zu und ergänzte: »Er hat für einen Laien außergewöhnliche Rechtskenntnisse auf dem Gebiet des Erbrechts.«
»Also ein Rechtsgebiet, das er bestimmt nicht im Zusammenhang mit seinem Wirtschaftsstudium kennengelernt hat. Er hat gewissermaßen Erbrecht studiert, und zwar ganz gezielt für seine Erbschaft. Er kennt den Begriff der Kommorienten und andere Begriffe mehr. Gregor Pakullas Problem ist, dass er stets prahlen muss. Er, der so gern von Struktur redet, stolpert über seine eigene. Weil er immer gern preisgibt, wie schlau er ist, was er weiß, und weil er auch immer damit angeben muss, wie er uns für seine Zwecke eingespannt hat.«
Sie erreichten Palma, ohne dass Knobel Maries
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