Todesflirt
Tisch.
»Schluss jetzt damit. Hört auf!« Sie musterte uns streng.
»Ich denke auch, wir müssen erst einmal hören, was David dazu sagt. Ich habe bereits mit dem Vereinsvorstand telefoniert und unsere Vorsitzende wird heute nach der Schließung mit ihm vorbeikommen. Ich möchte alle bitten zu bleiben.«
»Und was sagen wir Berivans Mutter?«, fragte Sabine.
»Die kann, wenn sie das möchte, natürlich rechtliche Schritte gegen ihn einleiten. Aber glücklicherweise ist sie eine sehr vernünftige Frau und will erst mal abwarten, was David dazu sagt.«
»Also, im Ernst«, fiel mir ein. »Mir ist an Berivan in letzter Zeit nichts Besonderes aufgefallen. Sie war so fröhlich wie immer. Wenn da was gewesen wäre – das hätten wir doch gemerkt.«
»Schätzelchen«, sagte Jessica von sehr weit oben herab. »Sei doch nicht so naiv. Vielleicht hat das Kind gar nicht gemerkt, was da mit ihm angestellt wird. Solche Männer sind meist sehr geschickt.«
»Solche Männer?« Jetzt platzte mir der Kragen. »Weil du eine unscharfe Ausschnittvergrößerung vorgelegt bekommst, gehört David gleich zu solchen Männern? Du hast sie ja wohl nicht mehr …!«
»Du kannst uns ja mal erzählen, ob dir vielleicht irgendwas an ihm aufgefallen ist«, fiel mir Regine ins Wort. »Oder ist er immer ganz normal? Vielleicht mag er es ja, wenn du eine Schulmädchenuniform anziehst!«
»Schluss«, schrie die Schneider. »Das geht jetzt wirklich zu weit!«
Ich konnte nicht mehr, ich wischte die Tränen von meiner Wange, sprang auf und stürmte aus dem Team-Zimmer, rannte in die Toilette und schloss hinter mir ab. In meinem Kopf ein einziges Chaos. Ich ließ mich auf den Klodeckel sinken.
Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Ich wollte das alles nicht. Ich wollte eine Zeitvorspulmaschine, die mich in eine ruhige, sichere und glückliche Zukunft transportierte, in der alle Ungewissheit, aller Schmerz getilgt wären.
Ich stand auf und schüttete mir kaltes Wasser ins Gesicht. Starrte auf den Strahl, der aus dem Hahn kam. Schloss ihn. Sah die Tropfen behäbig in Richtung Abfluss wandern. Legte meine Stirn auf den kühlen, metallisch glänzenden Wasserhahn.
War es das, wonach es aussah?
Bestimmt nicht.
Aber was, wenn diese Geschichte aus der Vergangenheit genau damit zu tun hat?
Hat sie nicht.
Und er hat schon mal ein kleines Mädchen … oh Gott, missbraucht.
Hat er nicht.
Und jetzt ist ihm vielleicht der Vater des Kindes auf der Spur. Weil er abgetaucht ist.
Ist er nicht.
Und der Mann ist so wütend, dass er ihn umbringen will.
Will er nicht.
Und was hat diese Luisa damit zu tun? Hat sie ihn gedeckt?
So wie ich jetzt? Aber ich weiß ja nichts, ich weiß gar nichts, überhaupt nichts. Nur, dass ich ihn liebe. Geliebt habe. Nicht mal das weiß ich!
Sanftes Klopfen an der Tür schreckte mich auf.
»Tabea, alles klar?« Annegret.
»Komm gleich«, stieß ich hervor. »Gib mir noch fünf Minuten.«
Als würde sich in fünf Minuten meine Welt verändern. Ich starrte auf die weißen Kacheln. Ich wollte das gar nicht, aber ich tat es.
Mit Wucht donnerte meine Stirn gegen die Fliesen. Der Schmerz drückte alles weg. Ein roter Tropfen fiel auf den weißen Boden. Das Gefühl der Spannung ließ nach.
Ich griff benommen nach einem Papiertuch aus dem Spender neben dem Waschbecken und drückte es gegen die kleine Wunde. Nach ein paar Minuten kam kein Blut mehr. Ich wischte die Spuren auf dem Fußboden weg, schüttete mir noch einmal Wasser ins Gesicht, und ohne es abzutrocknen, verließ ich die Toilette. Aus dem Garten klangen die Rufe der Kinder zu mir hoch.
Ich wollte ihn nicht sehen. Wollte nicht auf der Seite der Anklage stehen und ihm in die Augen schauen müssen. Aus dem Wirbelsturm in meinem Kopf war eine einzige Frage in den Mahlstrom des Unaufhörlichen geraten: Konnte es sein? Konnte es wahr sein? Mein Herz schrie die Antwort: Nein! Aber mein Verstand riet zumindest zur Vorsicht.
Blass sah er aus, als er jetzt in das Teamzimmer kam. Alle gafften ihn an, die einen neugierig, die anderen beklommen, unsicher. Immerhin saßen wir gemeinsam um einen Tisch herum – es gab keine Anklagebank. David spielte nervös mit seinen Fingern und sah betreten zu Boden. Sein ausgewaschenes gelbes T-Shirt machte ihn noch blasser.
Mit ihm war Marie Eisenstädter, die Vereinsvorsitzende, gekommen, eine stattliche Frau um die 50 mit wallenden kastanienroten Haaren, ebenso wallenden Gewändern in Apfel- und Dunkelgrün und mit einer
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