Todesflirt
hier total gemütlich! Immer musst du kommen und die ganze Stimmung kaputt machen.« Ohne noch etwas zu sagen, machte ich auf dem Absatz kehrt und ging nach drinnen. Blödes Volk! Konnte mir gestohlen bleiben!
Ich fuhr meinen Computer hoch, checkte den Maileingang, der von diversen Newslettern von sozialen und politischen Gruppen geflutet wurde, und ging auf meine Facebook-Seite. Ich schickte Toni eine Nachricht, dass sie sich mal melden solle. Ich wusste, dass sie ihre normalen Mails praktisch nicht mehr durchschaute und so am schnellsten zu erreichen war. Weil es aufs Semesterende zuging, war sie ziemlich im Stress mit Referaten und Hausarbeiten. Aber ich brauchte mal wieder einen Blick von außen auf das ganze Chaos hier.
Wie immer wurde auf Facebook eine Riesenmenge Mist gepostet. »Juchhu, darf jetzt Eiskaffee trinken gehen«, hatte Anne geschrieben, mit der ich in der zehnten Klasse mal befreundet gewesen war. »Schluchz, schluchz«, verkündete Desirée, noch so eine Schulfreundin, deren Abwesenheit in meinem Alltag mich eher bereicherte. Mit ihrem Post hatte sie genau das geschafft, was sie wollte: 21 Kommentare von angeblich so besorgten Freunden, die wissen wollten, was los war, nur damit sie am Ende damit rausrückte, dass sich ihr Lieblingssonnentop beim Waschen in Fetzen aufgelöst hatte. Das waren Probleme …
»Annika Resch ist jetzt mit Torsten Hammerschmidt befreundet«, las ich wie schon vor ein paar Tagen. Mal sehen, was das Profil von Herrn Hammerschmidt hergab. Natürlich teilte er nicht alle Informationen mit jedem. Unter Info war zu lesen, geboren in Elmshorn am 21. November 1986, bei »Arbeitgeber« hatte er »selbstständig« eingegeben, der Großkotz. Wieso er dann aber bei Ausbildung sein Studium nicht aufgeführt hatte, wunderte mich schon etwas. Als Hobbys hatte er »Lesen, Schießen, die Welt verbessern« angegeben. So ein Schmarrn! Immerhin konnte ich seine Fotos anschauen. Es waren nicht allzu viele. Hauptsächlich Porträts von ihm selbst. Boah, was für ein eitler Fatzke das war! Und ein Macho noch dazu. Auf einem Foto hatte er ein tarnfarbenes Käppi auf dem Kopf und hielt ein Messer quer im Mund. Die Augen riss er weit auf, als wolle er einen mit seinem Blick verschlingen. Dabei saß er gerade harmlos auf unserer Gartenbank und schnitt Erdbeeren klein. Bescheuert. Seine Pinnwand-Einträge waren mager, nur die wenigsten für die Öffentlichkeit einsehbar. Aber immerhin konnte ich mir seine 347 Freunde etwas näher ansehen. Annika kam natürlich ziemlich weit vorne. Eindeutig hatte er mehr männliche Freunde als weibliche und offensichtlich liebten viele seiner Freunde so martialische Posen wie er selbst. Albern! Irgendwann stieß ich auf einen Robin, der mir deshalb aufgefallen war, weil sein Profilbild ganz anders war als die andern. Man sah fast nur die Augen in einem blassen, fast noch kindlichen Gesicht – und diese dunklen Augen wirkten unendlich traurig. Ich klickte darauf. Und staunte. Robin war ein Liebhaber von schwurbeliger Lyrik.
Verwestes gleitend durch die morsche Stube;
Schatten an gelben Tapeten; in dunklen Spiegeln wölbt
Sich unserer Hände elfenbeinerne Traurigkeit.
Braune Perlen rinnen durch die erstorbenen Finger.
In der Stille
Tun sich eines Engels blaue Mohnaugen auf.
Blau ist auch der Abend;
Die Stunde unseres Absterbens, Azraels Schatten,
Der ein braunes Gärtchen verdunkelt.
Auch wenn ich es nicht gleich verstand und mehrmals lesen musste, entwickelten die Worte einen seltsamen Sog. Eine unendliche Traurigkeit sprach aus ihnen. Azrael war der Todesengel, wie ich mit einem schnellen Klick auf Wikipedia herausfand. Wie konnte Torsten so tiefsinnige Freunde haben? Ich scrollte auf Robins Seite weiter nach unten. Es gab nicht allzu viele Einträge. Vielleicht einen pro Monat. Ähnliche Gedichte wie das aktuelle. Alle triefend vor Sehnsucht, vor Unglück, voller Todesmethaphorik und Trauer. Und plötzlich wurde mir klar, warum. Vor etwas mehr als einem Jahr gab es einen Eintrag, den ungefähr 40 Leute kommentiert hatten. »Wir vermissen dich«, stand da und »Wir werden dich nie vergessen«. »OMG – ich kann es einfach nicht glauben!« oder »Robin – komm zurück!«. Robin war vor einem Jahr gestorben. Eine Gänsehaut lief über meinen Rücken. Wie furchtbar! Ob er einen Unfall gehabt hatte oder eine Krankheit? Ich las weiter. Ein Eintrag brannte sich mir in die Netzhaut. Er war von Torsten. »Wir werden deinen Tod nicht ungesühnt lassen! Wir werden
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