Todesflirt
uns schon lange abgeschafft, und zwar zu Recht.«
»Ach!« Er zögerte keine Sekunde. »Du schätzt also das Recht eines Täters höher ein als das eines Opfers? Interessant.« Er öffnete die Heckklappe seines Wagens und stellte die Blumensteige ab.
»Nein, natürlich nicht. Aber wenn du den Täter umbringst, wird das Opfer auch nicht wieder gesund oder lebendig.«
Er setzte sich auf den Rahmen des Kofferraums und verschränkte die Arme vor seinem tannengrünen Polohemd. Statt der beinahe schon üblichen beigen Stoffhose trug er eine dunkelblaue Cargohose. Vielleicht befürchtete er, sich mit der Blumenerde schmutzig zu machen.
»Oh, das ist doch ein Weichei-Argument. Und komm mir nicht damit, dass man ein Todesurteil nicht rückgängig machen kann. Warum sollte man das denn wollen? Stell dir mal vor, irgend so ein Perverser würde sich an deiner Juli vergehen – da geht dir doch das Messer in der Tasche auf, oder? Da willst du Vergeltung!«
Ich schüttelte den Kopf und schloss mein Fahrrad an.
»Aber wenn der Staat tötet, sorgt er selbst dafür, dass ein Klima der Gewalt in unserer Gesellschaft entsteht. Und das produziert noch mehr Straftaten.« Wie dankbar war ich meinem Politiklehrer Herrn Herzensberger. Wir hatten uns über sein Fisselbärtchen und die hohe Stimme immer lustig gemacht – aber gelernt hatten wir auf alle Fälle etwas. Und zwar nachhaltig.
Torsten lachte jovial auf. Am liebsten hätte ich den goldenen Hämmerchen-Anhänger von seinem Hals gerissen und ihn damit erschlagen. Der Typ machte mich aggressiv.
»Ach, ihr Sozial-Romantiker! Niedlich! Hey, die Welt ist nicht so lieblich und nett. Wenn wir nicht aufpassen, dann geht’s uns bald allen an den Kragen. Ich glaube nicht, dass es dieser Staat schafft, Wohlstand für uns alle zu gewährleisten. Die füttern viel zu viele Parasiten durch.«
Ich zeigte ihm meinen rechten Mittelfinger und ließ ihn einfach stehen. Auf ein solches Niveau wollte ich mich nicht herunterbegeben. Was für ein ätzender Depp!
»Pass nur auf, dass du mit der Frisur nicht von der falschen Seite vermöbelt wirst«, rief er mir hinterher. Ich hob noch mal meinen Finger.
Als ich hereinkam, stand Annika gleich neben der Tür, die Hände tief in den Taschen ihrer grünen Kittelschürze vergraben. Ich sog den Duft von Erde und Blüten in mich ein und spürte, wie die Hitze aus meinen Wangen wich.
»Warum musst du immer mit ihm streiten?«, fauchte sie mich an, mit einem Seitenblick die drei, vier Kunden abscannend. Ihre Augen hatten einen grünen Schimmer, der von der Schürze noch verstärkt wurde.
»Was willst du mit diesem Typen? Das ist ein Pisskopf! Und wenn du mit dem noch einmal über David und mich sprichst, kratz ich dir die Augen aus!«
»Na, danke, gleichfalls«, schrie sie mich an. »Er ist wenigstens höflich und freundlich und interessiert sich für mich und will nicht nur rumvögeln. Aber so was scheint dir ja nicht wichtig zu sein. Je kaputter der Typ, umso doller.« Irgendwo neben uns knallte ein Einkaufswagen gegen ein Regal.
»Hey, Mädels«, zischte meine Mutter und schob uns auseinander. »Nicht in meinem Laden! Nicht vor den Kunden! Ab nach draußen und zupft mal schön Beikraut, bis ihr euch wieder abgekühlt habt.« Wie zur Drohung fuchtelte sie mit der Gartenschere zwischen uns hin und her.
Ich ließ beide stehen und flüchtete mich in mein Zimmer. Der Druck auf den On-Knopf des Computers ging automatisch, noch bevor ich meine Tasche aufs Bett warf. Ich schnappte mir meinen Laptop und kuschelte mich auf das Sofa unter dem Fenster. »Komm schon«, spornte ich das Gerät an, bis es sich endlich ins WLAN-Netz eingewählt hatte.
Meine Augen flatterten suchend über den E-Mail-Eingang. »Facebook notification … Betreff: Luisa Harmstorf hat dich als FreundIn auf Facebook bestätigt.« Puh. Ich klickte auf den Link und ihre Seite erschien. Als Profilbild war noch immer das Bild der bombardierten Stadt gewählt. Doch unter »Fotos« fand ich auch ein Bild von ihr. Sie war so ein Typ, der gut in einem Film über das 19. Jahrhundert hätte mitspielen können. Vielleicht ein wenig älter als ich, lange blonde Haare mit vielen dicken Locken und türkisfarbene Augen. Eine schmale Nase mit einem kleinen Piercingring im rechten Nasenloch, sanft geschwungene Lippen, ein eher flächiges Gesicht. Ihr Blick wirkte traurig und – vertraut. Sie sah wahnsinnig vertraut aus. Ihr Geburtsdatum hatte sie nicht angegeben. Ich sah mir die übrigen Fotos an.
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