Todesflirt
Herr ist über Leben und Tod.
11. Kapitel
Bevor ich am nächsten Tag endlich Feierabend machen konnte, rief mich die Schneider, versteinert lächelnd, in ihr Büro. Ich folgte ein wenig beklommen, war aber umso froher, als mich der offene Blick von Marie Eisenstädter empfing. Die beiden Frauen berichteten mir, dass sie noch einmal ausgiebig über David gesprochen hätten. Da sie ja nun wussten, dass wir auch »privat miteinander Umgang pflegten«, wie sie sich vorsichtig ausdrückten, wollten sie meine Einschätzung noch einmal hören. Ich bat sie, die Kopie des Briefes zu holen, und erklärte ihnen, dass wir zu der Ansicht gekommen waren, dass das Bild gefälscht sein müsse, dass auch Berivans Mutter uns glaubte und dass ich mir in keinster Weise vorstellen konnte, dass David in irgendeiner Weise pädophil veranlagt war. Die Schneider starrte lange auf das Bild, die Eisenstädter hatte bei meinen Erläuterungen zustimmend genickt.
»Er hat natürlich keine ganz unproblematische Vergangenheit«, sagte Marie Eisenstädter nachdenklich und fixierte das krakelige Kinderbild eines Feuerwehrautos, das hinter der Schneider an der Wand hing.
»Inwiefern?«, fragte ich nach, sehr bemüht, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Langsam wendete die Eisenstädter mir den Blick zu. Eine feine rote Strähne klebte an ihren in Beerenfarben geschminkten Lippen. Sie wischte sie weg. Ein Bruchteil Zeit, in dem sie nachdachte. Ich sah es genau.
»Na ja, schlechtes Abschlusszeugnis, Ausbildung abgebrochen«, sie räusperte sich. »Die Vorstrafen. Gut, die sind aus unserer Sicht als Arbeitgeber quasi schon verjährt.«
Vorstrafen? Ich nahm die Eisenstädter nur noch wie durch einen Tunnel wahr – ganz weit weg und von schwarzem Nichts umgeben.
»Ach so, das«, stammelte ich.
»Wie dem auch sei«, fasste die Vereinsvorsitzende zusammen. »David hat sich in seiner Zeit bei uns immer tadellos verhalten, hat seine Arbeiten gewissenhaft erledigt – und dass die Kinder ihn lieben, na, das brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen. Ich bin an sich wirklich froh, dass wir dem jungen Mann eine Chance gegeben haben. Wir haben ja lange überlegt und diskutiert. Aber letztlich haben wir uns darauf verständigt, dass es mit ihm gehen wird. Viele Mitbewerber hatte er ja auch nicht. Und wir brauchten einfach jemand. Dass er sehr introvertiert ist – mei, das sind viele, das ist kein Verbrechen. Also: Wenn Berivans Mutter auf eine Anzeige verzichtet, dann ist die Sache für mich erledigt. Auch meine Vorstandskollegen sind dieser Ansicht.«
Ich sollte erleichtert sein. Aber ein Freund, der Vorstrafen hatte? Okay, vielleicht war er mal mit Gras erwischt worden. Oder in eine Prügelei geraten. Genau, er hatte mir doch erzählt, dass er früher gelegentlich in so was verwickelt gewesen war. Und dass er solche Situationen jetzt mied. Er hatte doch sogar ein Antiaggressions-Training gemacht. Die Jungs in ihren leuchtenden Trainingsanzügen gerieten in den Blickpunkt meines inneren Monitors, das limettengrüne Fahrrad, das sich über die Brücke entfernte. Kein Wunder, dass er abgehauen war. Vielleicht hatte er Auflagen, durfte auf keinen Fall mit irgendwelchen Auseinandersetzungen in Verbindung gebracht werden. Genau, so wird es gewesen sein. Meine Schultern strafften sich leicht, ich spürte, dass ich ein Lächeln zustandebrachte.
»Jetzt aber ab in den wohlverdienten Feierabend.« Marie Eisenstädter lächelte. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.
Vor der Gärtnerei parkte mal wieder Torstens dunkelblaues Golf-Cabrio. Zum ersten Mal fiel mir der kleine Aufkleber neben dem Nummernschild auf. In kantigen Buchstaben stand dort: »Todesstrafe für Kinderschänder.« Ob Annika den schon gesehen hatte?
»Hm, die große Frau Schwester«, hörte ich seine spöttische Stimme hinter mir. «Und wieder allein. Mag dich dein Freund nicht mehr? Deine Schwester meint, es ist aus zwischen euch. Weil er böse Bilder von dir ins Netz gestellt hat.« Im Arm hielt er eine Steige mit blühendem Lavendel und Trollblumen.
»Geht dich gar nichts an. Todesstrafe für Kinderschänder – was ist das denn für ein Scheiß?«, fuhr ich ihn an. Er grinste und schob seine Sonnenbrille ins gelackte Haar. Seine blauen Augen blitzten herausfordernd.
»Wieso? Hast du ein Herz für Kinderschänder? Ach, stimmt ja, da war doch noch was …« Er zwinkerte. Ich hätte Annika umbringen können.
»Nein, natürlich nicht.« Mein Puls ging schneller. »Aber Todesstrafe? Die ist bei
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