Todesflirt
Lagerfeuerromantik und Zeltübernachtungen. Ein Link führte auf eine Art Gästebuch, wo sich Jugendliche über eine wohl ähnliche Freizeit sehr positiv äußerten. Sie lobten den kameradschaftlichen Umgang miteinander, den Naturgenuss und die mitreißende Art von Torsten. Sie versprachen, einander die Treue zu halten und für die Volksgesundheit einzutreten, was immer das heißen sollte. Auf einem Foto sah man eine Horde vielleicht 15-Jähriger mit nackten Oberkörpern, rasierten Haaren und in kurzen Bundeswehrhosen, die auf einem Baumstamm standen und die Arme nach oben hielten – quer über ihnen lag ein grinsender Torsten. Ich staunte. Dass dieser geschniegelte Typ sich für urwüchsige Ferienfreizeiten hergab, hätte ich nicht gedacht.
Schließlich las ich noch einmal auf Robins Seite das Gedicht. Schauerlich schön. Obwohl er tot war, gab es schon wieder neue Einträge neben Robins Foto. »Ich vermisse euch so fürchterlich«, stand da. Wen meinte der jemand mit »euch«? »Mein Leben fühlt sich an wie nach einem verdammten Bombenangriff. Und ich weiß, es wird keinen Friedenspakt geben. Nur Tod und Vernichtung.« Und darunter ein Foto. Schwarz-weiß. Ich rutschte dichter an den Bildschirm. Klickte das Foto groß. Keine Frage. Ich kannte es. Das Bild eines brennenden Hauses, von Schuttbergen und richtungslos umherirrenden Menschen umgeben. Wie absurd wirkte der schwarze Anzug, der dunkle Hut, den einer der Männer auf dem Bild trug. Als gäbe es inmitten dieser Zerstörung Alltag und Normalität. Es war das Bild auf der Postkarte von Luisa.
Erst jetzt merkte ich, dass es um mich herum finster geworden war. Nur der blaue Schein des Computerbildschirms erhellte die Dunkelheit. Er beschien die bunte Bettwäsche, das Greenpeace-Poster mit der beinah bedrohlich wirkenden Schildkröte, die Finger der Palmenblätter neben meinem Schreibtisch. Er beschien eine Idylle, deren Existenz mit einem Mal nicht mehr gerechtfertigt wirkte. Ich klickte Robins Freundesliste an. Ich brauchte nicht lange suchen. Luisa Harmstorf hieß sie. L. H. – wie der Absender auf der Postkarte. Ihr Profilbild entsprach dem Bild auf der Karte. Auf ihrer Seite gab es nicht viel zu lesen. Ein paar Statusmeldungen, mit wem sie befreundet war, irgendwann ein Beziehungwechsel: von »in einer Beziehung« zu »Single«. Daran hatte sich offensichtlich nichts mehr geändert. Als ich sah, von wann dieser Eintrag stammte, schluckte ich: Er war zwei Tage, nachdem Robin gestorben war, vorgenommen worden. War sie seine Freundin gewesen? Oder Davids?
Ich verschränkte die Finger, legte meinen Kopf auf ihnen ab. Das Blut pochte in meinem Schädel. Ich schloss die Augen. Wieso hatten Torsten und David beide etwas mit Luisa zu tun? Zufall? Auch Torsten kam aus Norddeutschland, hatte vielleicht sogar mal in Hamburg gelebt. Aber hatte nicht David davon erzählt, dass er seine Ausbildung in der Nähe von Hamburg absolviert hatte? Okay, Schulfreunde vielleicht. Torsten war zwar etwas älter als David, aber so groß war der Unterschied nicht. Vier Jahre. Kannte ich Leute an meiner Schule, die vier Klassen unter mir gewesen waren? Selbst drei Klassen drunter sah es schon mau aus. Aber weder bei Torsten noch bei Luisa oder Robin tauchte ein David in der Freundesliste auf. Na ja, so wie ich David kannte, war er vermutlich auch kein Facebook-Nutzer.
Mein Finger schwebte einige Sekunden über der Maustaste. Sollte ich? Ja. Unbedingt. Ich musste sogar. Klick. Meine Freundschaftsanfrage an Luisa war versendet. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Hoffentlich würde sie die Anfrage akzeptieren.
Die Kühle des Waldes tut ihm gut. Zwei Stunden ist er hier herumgelaufen, bevor er sie entdeckt hat. Aber sobald er sie sah, wurde er ganz ruhig. Alles würde gut werden. Der Platz ist perfekt. Auch wenn er ihn vielleicht gar nicht benötigt. Denn später wird er sich direkt in die Höhle, nein ins Erdloch dieser Ratte begeben. Und er wird ihm eine Lektion erteilen, die klarmacht, wer der Herr und wer der Knecht ist. Und vielleicht kann er das Problem damit endgültig lösen. Dennoch hofft er beinah, dass Plan zwei zum Einsatz kommt. Damit er der Menschheit einen weiteren Dienst tun kann. Wie schade, dass er dem Vater und dem Großvater davon nicht wird berichten können. Sie wären so stolz auf ihn, den guten Jungen. Über den Bäumen erscheint die Sichel des Mondes. Zeit, sich noch ein wenig auszuruhen, damit er gestärkt in den Kampf ziehen kann. Und der Welt zeigen, wer der
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