Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition)
sich jedes Mal wie Freiwild. Stand es vielleicht in den Statuten des Altersheims, dass man die Besucher zu teilen hatte oder warum wurde er hier immer angesprochen? Er wollte schnell hoch zu seiner Mutter und dem Schweinebraten. „Guten Abend, ich bin bei meiner Mutter zum Essen eingeladen und möchte sie ungern warten lassen.“
„Ach, da wird sie sich aber freuen. Wo ist denn Ihre liebenswürdige Begleiterin vom letzten Mal?“
Georg seufzte. An Lisa-Marie hatte er die letzten Tage gar nicht gedacht und plötzlich schmerzte die Erinnerung an sie wie eine offene Wunde. Offensichtlich hatte seine Kollegin großen Eindruck bei dem Mann hinterlassen. Georg gestand sich ein, dass sie ihm fehlte und dass er sich schon darauf freute, dass sie kommende Woche wieder ihren Dienst antrat. Es w ürde zwar komisch sein, weil sie kein Paar mehr waren, aber Georg hoffte, dass sie mehr als nur Kollegen blieben, die zufällig zusammen arbeiteten.
Der alte Mann sah Georg immer noch fragend an. Mensch, die alten Leutchen hier, die ve rgaßen doch laufend irgendetwas; warum konnte der Opa die Erinnerung an Lisa-Marie, die er nur einmal gesehen hatte, nicht einfach aus seiner Erinnerung streichen? Obwohl er genervt war, blieb Georg freundlich. „Ich finde es auch schade, dass sie nicht dabei sein kann, aber sie hat heute keine Zeit. Es tut mir leid, ich muss jetzt wirklich weiter. Auf Wiedersehen.“ Der alte Mann nickte und schlurfte zurück zu seinem Sitzplatz.
Im Altersheim war Georg eine Respektperson und wurde von jedermann gegrüßt. Die Ehrfurcht, die Bewohner und Pfleger vor seinem Beruf hatten, endete allerdings direkt hinter der Wohnungstür seiner Mutter. Hier war er nur noch Sohn und das merkte Georg gleich, nachdem ihm seine Mutter die Tür über die Sprechanlage geöffnet hatte. Der Öffner summte und er trat ein. Sofort stieg ihm der herrliche Duft des Bratens in die Nase und er wollte schon den Kopf zur Wohnzimmertür hereinstrecken, um seine Mutter zu begrüßen, als er ihre Stimme aus der Küchennische hörte. „Gell, Schorsch, du ziehst schon deine Schuhe im Flur aus. Und geh dir noch die Hände waschen vor dem Essen!“
Georg kamen spontan Zweifel, ob es eine gute Idee gewesen war, die Einladung anzunehmen. Seit seine Mutter im Heim war, schien sie vergessen zu haben, dass sie einen erwachsenen Sohn hatte, dem sie keine Anweisungen mehr geben brauchte. Heute Abend schluckte Georg seinen Ärger über die Bevormundung allerdings herunter. Er wollte unbedingt den Rat seiner Mutter und da war es wichtig, sie tunlichst nicht zu verärgern. Deshalb zog er brav die Schuhe aus und ging sich die Hände waschen. Aber er konnte die Sache nicht einfach so wegstecken.
Als Georg aus dem Badezimmer kam, fiel sein Blick im Flur auf die Bonbonniere aus Porzellan . Das gute Stück stand auf einem kleinen Tischchen mit geschwungenen Beinen, auf das seine Mutter ein gehäkeltes Spitzendeckchen gelegt hatte. Dort hatte sie schon zu Schubartstraßen-Zeiten ihre Süßigkeiten aufbewahrt und als Georg den Deckel anhob, sah er, dass die Dose wie immer gut gefüllt war. Seine Mutter hatte es nicht ausstehen können, wenn er vor dem Essen um Süßes gebettelt hatte; Naschen vor dem Essen sah ihr Tagesplan nicht vor. Genüsslich griff Georg deshalb in die Schale und schob sich sofort ein Schoko-Toffee in den Mund. In seine Jackentasche steckte er sich noch einen süßen Vorrat als Wegzehrung für die Fahrt nach Hause. Erst dann ging er mit einem Grinsen im Gesicht ins Wohnzimmer.
Seine Mutter hatte den Tisch schön gedeckt und die dampfenden Schüsseln bereits aufgetragen. Georg setzte sich auf das Sofa. Seit sie ins Gertrudenstift gezogen war, hatte sich seine Mutter angewöhnt, im Wohnzimmer zu essen. In der Küche stand zwar auch ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, aber der Platz war nicht so gemütlich wie der in dem großen Zimmer. Georg ließ es sich schmecken. Er wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und wartete ab, welche Themen seine Mutter anschnitt.
Gerlinde wollte nicht zu neugierig erscheinen und vermied es deshalb, ihren Sohn direkt nach seinem aktuellen Fall zu fragen. Stattdessen plauderte sie erst einmal über die Neuigkeiten auf ihrer Station. Sie erzählte Georg von ihrem neuen Nachbarn, der wie sie ein Faible für klassische Musik hatte und ebenfalls seit langem verwitwet war.
Die Namen ihrer Mitbewohner vergaß Georg regelmäßig und er hielt es angesichts des stetigen Wechsels auch für
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