Todesgott
der Retterin, Ásbjörg Sigrúnardóttir, die einem Interview sofort zugestimmt hat. Auf dem Rücksitz hockt Snúlli, ruhig und adrett, am Türgriff festgebunden.
»Wo warst du?«, frage ich, während ich versuche, auf der Karte die Holtagata zu finden.
»Hab kurz bei der
Akureyri-Post
reingeschaut. Deren Büro ist ganz in der Nähe, in der Skipagata, unterhalb der Fußgängerzone.«
»Bei der
Akureyri-Post?
Genau das hatte ich auch vor, hab es aber noch nicht geschafft. Erstaunlich, dass es denen gelingt, jahrelang eine lokale Wochenzeitung am Laufen zu halten. Wir sollten unbedingt einen guten Kontakt zu dem Blatt aufbauen.«
»Ich hab die Chefredakteurin getroffen und ihr vorgeschlagen, dass wir drei uns morgen Abend treffen und in einem dieser schicken Restaurants, die es hier geben soll, essen gehen. Alle haben Osterferien, und ich finde, wir haben uns nach den ganzen Pizzas und der Plackerei eine Abwechslung verdient. Einverstanden, Einar?«
»Na klar. Hört sich sehr gut an. Und es ist an der Zeit, die Spesen auszunutzen.«
Die Holtagata ist eine nette, kleine Straße oberhalb der Innenstadt, nicht weit von der Kirche und vom Gymnasium. Ásbjörg Sigrúnardóttir wohnt in einem hübschen alten Steinhaus.
Snúlli scheint sich hier auszukennen und bellt leise.
Ásbjörg öffnet uns die Tür – ein sympathisches, etwas schüchternes Mädchen, etwa siebzehn Jahre alt, mit langem, dunklem Haar und Mittelscheitel, mandelförmigen grünen Augen, ungeschminkten, vollen Lippen und einem Ring in der Nase. Sie ist mittelgroß, sehr schlank und trägt eine enge, schwarze Hose und eine schwarze Bluse. Sie beugt sich hinunter zu Snúlli, der mit seinem Stummelschwanz wedelt und eifrig ihre Hand ableckt.
Ásbjörg weist uns ins links vom Flur gelegene Wohnzimmer und fragt, ob wir etwas trinken möchten. Ich nehme eine Cola und Jóa ein Glas Wasser, und Ásbjörg geht in die Küche auf der anderen Seite des Flurs.
Als wir das Wohnzimmer betreten, stutzen wir kurz. Es ist sehr geschmackvoll eingerichtet, mit schönem Parkettboden und weißer Sofaecke, aber es ist voller Kakteen. Große Kakteen, kleine Kakteen, hohe und niedrige Kakteen, lauter verschiedene Sorten, die ich nicht kenne.
»Das ist ja ein richtiger Kakteenwald«, lautet mein haarscharfer Kommentar, als Ásbjörg mit den Gläsern ins Wohnzimmer kommt.
»Ja, Mama mag Kakteen«, antwortet sie langsam und immer noch ein wenig schüchtern. »Sie findet sie schön.«
»Die brauchen bestimmt nicht so viel Pflege«, sage ich. »Leben Kakteen nicht fast von der Luft allein?«
Sie sagt nichts und wartet offenbar darauf, dass wir uns in die schneeweiße Sofaecke setzen, was wir auch tun. Jóa nimmt neben mir auf dem an der Wand stehenden Sofa Platz, und Ásbjörg setzt sich mit Snúlli im Arm uns gegenüber auf einen Stuhl. Der Hund scheint sich sehr wohl zu fühlen.
»Gehst du aufs Gymnasium?«
»Nein«, antwortet Ásbjörg und rutscht nervös auf ihrem Stuhl herum. Der Medienrummel scheint ihr unangenehm zu sein. »Ich hab letztes Frühjahr aufgehört. Weiß noch nicht, was ich machen werde. Ich versuche gerade, rauszufinden, was ich eigentlich will. Vielleicht gehe ich wieder zur Schule. Ich weiß noch nicht.«
»Du bist wohl auf der Suche nach dir selbst, wie wir alle?«, frage ich lächelnd.
»Wird wohl so sein. Ich arbeite manchmal bei meiner Mutter im Architekturbüro. Versuche, mich nützlich zu machen.«
»Deine Mutter ist also Architektin?«
Sie nickt.
»Möchtest du vielleicht auch Architektin werden?«
»Ich weiß noch nicht.«
»Kennst du ein Mädchen aus der Schule, das Sólrún Bjarkadóttir heißt?«
Sie grinst. »Die hat sich wohl heute ziemlichen Ärger eingebrockt.«
»Tja, es haben sich noch mehr Leute Ärger eingebrockt, nicht nur sie.«
»Ich kenne sie nicht persönlich, aber ich weiß, dass sie letzten Winter ziemliche Probleme hatte. Sie hatte kaum Freunde und war sehr viel allein. Ich glaube, sie ist nicht in der besten Gesellschaft gelandet.«
»Ist schlechte Gesellschaft besser als gar keine?«
»Das wollte ich damit nicht sagen«, entgegnet sie. Hinter ihrer schüchternen Fassade nehme ich Intelligenz und Entschlossenheit wahr.
»Okay«, sage ich und schalte das Aufnahmegerät ein. »Dann beginnen wir mal mit dem Anfang der Geschichte.«
Es begann damit, dass sie zu Fuß am Hafen unterwegs war und zufällig ein paar etwa zehnjährige Jungen beobachtete, die ein kleines Schoßhündchen ärgerten. Ásbjörg
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