Todeskampf - Robotham, M: Todeskampf - The Night Ferry
auf dem ich Platz nehmen soll. Sundays Frau kommt mit nicht zueinander passenden Gläsern auf einem Tablett herein und beginnt, süßen Tee auszuschenken. Ihre Haare sind zu einem Vorhang aus perlenverzierten Zöpfen geflochten. Sie lächelt mich schüchtern an. Auch ihre Zähne sind strahlend weiß, und sie weitet beim Atmen ihre breiten Nüstern.
Geschirr und Speisen werden aufgetragen. De Souza betrachtet mich über seine zusammengelegten Fingerspitzen hinweg und überlegt wohl, ob er mir helfen soll oder nicht. Er spricht perfekt Englisch mit dem Akzent der gebildeten Briten, was man besonders bei den langen Vokalen hört.
»Diese Gegend von Amsterdam heißt Bijlmermeer«, sagt er und blickt zum Fenster. »Im Oktober 1992 verlor ein Frachtflugzeug, das von Schiphol gestartet war, zwei Triebwerke und stürzte in einen Wohnblock wie diesen, voller Einwandererfamilien, die beim Abendessen saßen. Fünfzig Wohnungen wurden durch den Aufprall komplett zerstört, weitere hundert brannten aus, als das austretende Kerosin durch die Straßen strömte wie ein Fluss aus Feuer. Menschen stürzten sich von Balkonen und Dächern, um den Flammen zu entrinnen. Zunächst hieß es, es seien zweihundertfünfzig Menschen ums Leben gekommen.
Später wurde die Schätzung auf fünfundsiebzig nach unten korrigiert, und offiziell sind nur dreiundvierzig Menschen gestorben. In Wahrheit kennt niemand die wahre Zahl der Opfer. Illegale Einwanderer haben keine Papiere. Sie verstecken sich vor der Polizei. Sie sind Gespenster.«
De Souza hat das Essen noch nicht angerührt, wirkt jedoch äußerst zufrieden, dass die anderen zulangen.
»Verzeihen Sie mir, Miss Barba. Ich rede zu viel. Meine Freunde hier sind zu höflich, um mir zu sagen, dass ich still sein soll. Es ist Sitte, dass ein Gast etwas zu einem Fest mitbringt oder in irgendeiner Form zur Unterhaltung beiträgt. Singen oder tanzen Sie?«
» Nein.«
»Vielleicht sind Sie eine Geschichtenerzählerin.«
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.«
»Sie erzählen uns eine Geschichte. Die besten Geschichten handeln, so scheint mir, immer von Leben und Tod, Liebe und Hass, Treue und Verrat.« Er wedelt mit seiner Hand durch die Luft und fixiert mich mit seinen bernsteinfarbenen Augen.
»Ich bin keine große Geschichtenerzählerin.«
»Überlassen Sie das Urteil uns.«
Also erzähle ich die Geschichte von zwei Mädchen, die sich in der Schule kennen lernten und beste Freundinnen wurden. Seelenverwandte. Als später beide studierten, schlief die eine mit dem Vater der anderen. Er hat sie verführt. Sie hat sich verführen lassen. Die Freundschaft war beendet.
Ich erwähne keine Namen – aber warum erzähle ich ihnen eine so persönliche Geschichte?
Ohne Überleitung beginne ich von zwei anderen jungen Mädchen zu erzählen, die sich in einer Stadt der Witwen und Waisen kennen gelernt haben. Menschenschmuggler haben sie aus Afghanistan nach Amsterdam gebracht. Dort erklärte man ihnen, dass sie für ihre Flucht etwas schuldig waren. Entweder müssten sie als Prostituierte arbeiten oder für ein
kinderloses Ehepaar ein Baby austragen. In einem Ritual medizinischer Vergewaltigung wurden Jungfrauen die befruchteten Eizellen implantiert. Sie wurden zu perfekten Brutkästen. Zu Fabriken.
Noch beim Reden trocknet mir die Angst den Mund aus. Warum habe ich de Souza eine derart private Geschichte erzählt? Soweit ich weiß, könnte er selbst die Finger im Spiel haben. Er könnte der Anführer sein. Ich habe keine Zeit, mögliche Konsequenzen zu bedenken, und weiß auch nicht, ob es mich kümmert. Ich habe mich schon zu weit vorgewagt, um jetzt noch den Rückzug antreten zu können.
Als ich fertig bin, herrscht Schweigen. De Souza beugt sich vor und nimmt eine Praline von einem Teller, lässt sie über die Zunge rollen und zerbeißt sie langsam.
»Das ist eine gute Geschichte«, sagt er dann. »Freundschaft ist schwer zu beschreiben. Oscar zum Beispiel ist mein ältester Freund. Wie würdest du Freundschaft definieren, Oscar?«
Oscar grunzt leise, als ob die Antwort offensichtlich wäre. »Bei der Freundschaft geht es um Chemie und freie Wahl. Das kann man nicht genau beschreiben.«
»Aber es ist doch gewiss mehr als das.«
»Es ist eine Bereitschaft, Fehler zu übersehen und sie zu akzeptieren. Einem Freund würde ich erlauben, mir wehzutun, ohne zurückzuschlagen«, sagt er lächelnd. »Aber nur einmal.«
De Souza lacht. »Bravo, Oscar, ich kann mich immer darauf verlassen,
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