Todesnacht - Booth, S: Todesnacht - Scared to Live
wüssten nicht, wo Brian sei. Vielleicht versuchten sie nur, ihrem Schwiegersohn weiteren Kummer zu ersparen. Äußerst bewundernswert, aber nicht, wenn es den Ermittlungen in die Quere kam.
Fry beschloss, unangekündigt nach Darley Dale zu fahren, um die Lowthers zu überrumpeln. Es würde nicht einfach für sie werden, die Tatsache zu verbergen, dass sich Brian mit dem Baby im Haus aufhielt, wenn jemand vor ihrer Tür auftauchte.
Zuerst suchte sie noch einmal das Foto heraus – das mit der ganzen Familie Mullen, mit Brian und Lindsay, den beiden Jungen und Luanne. Möglicherweise handelte es sich um eines der letzten Fotos, das von ihnen allen gemeinsam gemacht worden war. Und sie wirkten darauf wie eine glückliche Familie, oder etwa nicht? Zumindest waren die Kinder der Mullens in den Genuss eines sicheren Starts ins Leben gekommen, behütet und geborgen, wenn auch nur für ein paar Jahre. Es mochte falsch sein, so zu denken, doch es gab eine
Menge Kinder, die nie ein solches Leben hatten, und Fry war eines von ihnen gewesen.
Landesweit lebten sechzigtausend Kinder bei Pflegeeltern oder in Heimen der Kommunalbehörden. Fry fiel es schwer, sich selbst als Teil einer riesigen anonymen Masse zu betrachten. Doch genau das war sie einst gewesen – eine Nummer in einer deprimierenden Flut von unerwünschten Kindern, die in den Gassen der Gesellschaft herumgereicht wurden; Kinder, die vom Schicksal dazu bestimmt waren, nie eine richtige Familie und ein richtiges Zuhause zu haben.
Zumindest eine Zeit lang waren Diane und Angie zusammen gewesen. Das hatte das Leben in dem Heim etwas erträglicher gemacht. Doch auch diese Situation war zu einem abrupten Ende gekommen.
Fry schloss die Augen, als sie einen plötzlichen stechenden Schmerz spürte. Die Erinnerung quälte sie noch heute. Jener Moment, als ihr das Unglaubliche bewusst geworden war: Angie war für immer fortgegangen, hatte ihrem Heim in Warley den Rücken gekehrt und war verschwunden. Von diesem Moment an hatte Diane sich in den Kopf gesetzt, alles wieder in Ordnung bringen zu können, indem sie Angie fand. Aber in Wahrheit hatte sie ihrer Schwester diesen Verrat vermutlich nie verziehen und ihn ihr auch nicht verzeihen können. Diese Wahrheit hatte sie sich bis heute noch nicht eingestanden.
Sechzigtausend Kinder. Fry kannte die Statistik. Die Hälfte von diesen sechzigtausend verließen die Schule ohne Abschluss, waren kaum in der Lage, zu lesen und zu schreiben, und waren zu einem Job ohne Aufstiegsmöglichkeiten verdammt, wenn nicht sogar zu einem Stammplatz in der Schlange beim Stempeln. Fry gehörte zu den mickrigen zwei Prozent, die es an die Universität schafften. Viele waren vom Schicksal zu einem Dasein auf der Straße bestimmt, verkrochen sich in einem schmutzigen Unterschlupf oder Crackhaus
und vergeudeten ihr Leben. Einige Heimkinder fühlten sich bis an ihr Lebensende unerwünscht und ungeliebt. Viele gingen nie eine normale Beziehung ein, da sie nicht wussten, wie. Niemand hatte es ihnen je gezeigt.
Zwei Drittel dieser Kinder lebten im Heim oder bei Pflegeeltern, weil sie missbraucht oder vernachlässigt worden waren. Jedes achte Kind kam mehr als einmal im Jahr in eine neue Pflegefamilie. Und das war ein Problem, da es ohnehin zu wenige Pflegeeltern gab. Zu viele Kinder und nicht genug Plätze, um sie unterzubringen. Ein Kind in Pflege zu nehmen war keine leichte Aufgabe. Sie hatte gehört, dass die Regierung jetzt in Erwägung zog, besonders sensible Kinder in Internate zu stecken und die Kosten für ihre Ausbildung zu übernehmen.
Fry wandte sich wieder dem Foto der Familie Mullen zu. Doch diesmal betrachtete sie nicht Lindsay und die beiden Jungen. Sie waren tot und konnten nicht mehr gerettet werden. Ihr Blickwinkel hatte sich geändert.
Sie hielt den Abzug ins Licht, das durchs Fenster fiel, damit die Farben besser zur Geltung kamen, die plötzlich so wichtig schienen. Sie studierte Brian Mullen und das sorgfältig eingewickelte Bündel in seinen Armen: Luanne Mullen, die ungefähr zwölf Monate alt gewesen sein musste, als das Foto aufgenommen worden war. Irgendwie kam es ihr ungewöhnlich vor, dass ein Kind in diesem Alter vom Vater gehalten wurde, wenn die ganze Familie versammelt war. Sie hätte eher erwartet, dass Lindsay diejenige sei, die das Baby fürs Foto präsentierte, während der Vater stolz zwischen seinen Söhnen stand. Doch die Mullens hatten anders posiert.
Vielleicht war es dieses Detail, das Frys Aufmerksamkeit
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