Todesnacht - Booth, S: Todesnacht - Scared to Live
kaum jemand etwas über Rose Shepherd weiß, obwohl sie schon ein Jahr zu den Bewohnern der Ortschaft gehört hatte«, sagte er.
»Tja, es scheint nur so, als hätte sie zu den Bewohnern der Ortschaft gehört. Genau genommen, hätte Miss Shepherd auch in einem anderen Universum leben können. In einer völlig anderen Zeit an einem völlig anderen Ort. Den Eindruck hatte ich zumindest jedes Mal, wenn ich sie sah.«
»Haben Sie sie oft gesehen? Angeblich soll sie eine ziemliche Eremitin gewesen sein.«
»Eine was?«
»Alle sagen, sie wäre nicht oft aus dem Haus gegangen.«
»Oh, ja, sie war eine richtige Einsiedlerin, wenn es das ist, was Sie meinen. Aber auf einige Dinge konnte sie nicht verzichten.« Er schüttelte den Kopf. »Man kann nicht in der heutigen Zeit leben, ohne Kontakt zu einem anderen menschlichen Wesen zu haben. Das funktioniert einfach nicht.«
»Und wo haben Sie sie kennengelernt?«
»In ihrem Haus natürlich.«
»Tatsächlich?«
»Sie hat mich hin und wieder zu sich nach Hause bestellt. Immer dann, wenn es irgendwelche Arbeiten zu erledigen gab. Sie hat in der Regel gewartet, bis sich genug angesammelt hat, dass es sich lohnt, wenn ich vorbeikomme – ein tropfender Wasserhahn, eine durchgebrannte Sicherung, ein paar fehlende Dachziegel. Anscheinend hat es sie nicht gestört, wenn irgendwas undicht war oder das Licht eine Zeit lang nicht ging. Ich nehme an, das war ihr lieber, als jemanden im Haus zu haben.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass es ihr nicht gefiel, wenn Sie bei ihr waren?«
Grice wühlte in einer Schachtel mit gelben Dübeln und taxierte
die Größe des Loches, das er in die Wand gebohrt hatte. Dann pickte er einen heraus und hielt ihn einen Augenblick lang zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Ich war dort immer nur geduldet – ein notwendiges Übel, wenn Sie so wollen. Es kam mir vor, als musste sie jedes Mal die Zähne zusammenbeißen, bevor sie überhaupt die Tür aufmachte, um mich reinzulassen. Ja, Miss Shepherd war eine sehr kontaktscheue Person. Wie hatten Sie das genannt?«
»Eine Eremitin.«
Er nickte, als speicherte er das Wort ab, falls er es in der Zukunft gebrauchen konnte. »Eine Eremitin. Ja.«
»Wie oft waren Sie bei ihr?«
»Keine Ahnung. Fünf- oder sechsmal, würde ich sagen. Das letzte Mal vor drei Wochen, um die Regenrinne zu reinigen und Laub zusammenzurechen.«
»Hat sich Rose Shepherd jemals mit Ihnen unterhalten, wenn Sie bei ihr waren, Mr. Grice? Hat sie Ihnen irgendetwas Persönliches über sich erzählt?«
»Nein, hat sie nicht.«
»Überhaupt nichts?«
»Kein Sterbenswort.«
»Jedes noch so kleine Detail, das sie preisgegeben hat, könnte uns weiterhelfen. Warum denken Sie nicht noch einmal darüber nach?«
»Ich brauche nicht darüber nachzudenken«, erwiderte Grice. »Sie hat sich nie mit mir unterhalten. Sie hat mir gezeigt, welche Arbeiten sie erledigt haben wollte, und dann hat sie mich machen lassen. Sie hat sich irgendwo versteckt, ist rauf in ihr Schlafzimmer gegangen oder so. Anfangs fand ich das ein bisschen merkwürdig. Beim zweiten Mal bin ich zu ihr nach oben gegangen und habe versucht, mit ihr zu reden. Nur, um sie zu fragen, ob ich eine Ecke des Teppichs festkleben soll, die sich gelöst hatte, wo ich schon mal da war. Aber sie wollte über gar nichts sprechen. Sie ist sogar ein bisschen
pampig geworden und hat mir gesagt, dass sie sich jemand anderen holen würde, wenn ich Fragen stellen will, anstatt meine Arbeit zu machen. Und ich glaube, das hat sie auch ernst gemeint. Danach habe ich es nicht mal mehr gewagt, nach einer Tasse Tee zu fragen.«
»Ich nehme an, sie hat gut gezahlt.«
»Ja, das hat sie. Der Kunde ist König, vor allem dann, wenn er überdurchschnittlich gut bezahlt.«
Hitchens musterte ihn eingehend. »Ich kann nicht glauben, dass Sie in der ganzen Zeit, während Sie in Bain House waren, nichts gesehen haben, Mr. Grice. Ihren Beschreibungen zufolge waren Sie praktisch unbeobachtet. Sie müssen doch neugierig gewesen sein. Waren Sie das denn nicht?«
»Ein bisschen schon. Aber ich konnte nicht im Haus rumschnüffeln. Ich wollte nicht, dass sie plötzlich auftaucht und mich dabei erwischt. Dann wäre ich meinen Job auf jeden Fall los gewesen.«
»Trotzdem bin ich sicher, dass Sie ein aufmerksamer Mann sind. Es ist doch fast unmöglich, dass man so viel Zeit wie Sie in Bain House verbringt, ohne irgendetwas zu bemerken.«
»Okay, mag schon sein, dass mir noch irgendwas einfällt. Aber ich kann mir
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