Todesnacht: Thriller (German Edition)
Tabitha war sich zwar alles andere als sicher, aber falls doch, dann konnte es doch gut sein, dass Tiff jetzt irgendwo im Himmel oder in der Hölle herumirrte. Oder wie Mrs. St. Pierre immer zu sagen pflegte, die ein Stück weiter oben in ihrer Straße wohnte: an einem besseren Ort. Mrs. St. Pierre hatte ein paar selbst gebackene Muffins vorbeigebracht, nachdem sie im Fernsehen von Tiffs Ermordung gehört hatte. Tabbie wusste nicht, wie sie auf die Idee gekommen war, dass Muffins ihnen irgendwie helfen könnten.
» Donnie « , hatte Mrs. St. Pierre gesagt, » ich weiß, dass du es nur sehr schwer annehmen kannst, aber bitte glaub mir, wenn ich dir sage, dass sie jetzt an einem besseren Ort sind. Alle beide. Tiff und Terri. Wieder vereint. Sie ruhen in Jesu Armen. «
Tabitha hatte erwartet, dass ihre Mutter Mrs. St. Pierre mitsamt ihren Muffins in hohem Bogen hinauswerfen würde. Sie wusste ja, dass ihre Mutter nicht an Gott glaubte und außerdem fand, dass Mrs. St. Pierre eine alte Giftschleuder war. Aber zu Tabbies Verwunderung hatte ihre Mutter sich einfach nur ganz artig bedankt.
Was die Sache mit der Religion anging, war Tabbie sich einigermaßen sicher, dass ihre Mutter recht hatte. Aber falls sich herausstellen sollte, dass es nicht stimmte und Mrs. St. Pierre doch recht hatte, tja, dann war dies doch eigentlich ein richtig gutes Argument für einen Selbstmord, oder nicht? Denn wer wäre nicht gerne an einem besseren Ort? Besonders wenn man in Eastport lebte. Und erst recht, wenn man als Geist keinen Körper brauchte und sich deswegen nicht damit abfinden musste, dick und tollpatschig zu sein.
Sie würde sich ohne Weiteres umbringen können. Sie wusste genau, wo Pike seine Waffe aufbewahrte. Und die Patronen. Sie wusste auch, wie die Waffe geladen wurde und wie man damit schoss. Das alles hatte Pike ihr beigebracht. Also würde sie sich vielleicht tatsächlich umbringen. Vielleicht auch nicht. Sie konnte sich nicht recht zu einer Entscheidung durchringen. Womöglich würde Tiff total sauer werden, wenn sie plötzlich unangemeldet im Himmel oder in der Hölle auftauchte oder wo Tiff nun mal hingeschwebt war. Sie hatte Tiffs Stimme genau im Ohr: » O Gott, was willst du denn hier? Ich hab dir doch gesagt, ein Kind im Schlepptau ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann. «
Mittlerweile war es wieder still im Haus. Schon seit etwa einer Stunde hatten ihre Eltern sich nicht mehr angebrüllt. Wahrscheinlich waren sie eingeschlafen. Ihre Mutter im Bett und ihr Vater unten im Rollstuhl.
Sie griff nach dem alten iPhone 3G, das Tiff ihr im vergangenen Monat geschenkt hatte, nachdem sie sich selbst ein nagelneues besorgt hatte.
» Das kann ich nicht bezahlen « , hatte sie zu ihrer Schwester gesagt. » Ich hab kein Geld. «
» Keine Sorge, Tabs. Es läuft auf meinen Namen. Ich bezahle das alles. Ich möchte bloß eine Möglichkeit haben, dich anzurufen, ohne dass es jemand mitkriegt. Du musst nur die Apps bezahlen, die du dir runterlädst. Okay? «
Tabbie hatte es kaum fassen können. Kein anderes Kind in ihrer Klasse hatte ein iPhone. Kein einziges. Nicht einmal Toby Mahler, und dessen Eltern hatten eine Menge Geld. Sie war die Einzige. Es war vermutlich das beste Geschenk, das sie je bekommen hatte. Abgesehen vielleicht von dem Kopfteil ihres Bettes, das Pike für sie gebastelt hatte.
» In Ordnung « , hatte sie gesagt.
Sie las sich die SMS von gestern noch einmal durch. Muss dich sehen. Alleine! Sag’s niemandem!!! 15.00 @ Schulspielplatz.
Ihre große Schwester fehlte ihr so sehr, dass sie immer wieder Tiffs neue Handynummer anrief. Natürlich war ihr klar, dass Tiff ihre Anrufe nicht mehr entgegennehmen würde, aber sie hörte sich immer wieder ihre Mailbox-Ansage an, die jedes Mal schon vor dem ersten Klingeln einsetzte: » Hallo, hier spricht Tiff. Ihr wisst ja Bescheid. Hinterlasst eure Nummer, und ich rufe zurück. «
Sie hatte sich die Ansage schon mindestens zwanzig Mal angehört. Aber jetzt beschloss sie zum allerersten Mal, eine Nachricht zu hinterlassen.
» Hallo, Tiff, hier ist Tabitha. Ich weiß, dass du mich nicht hören oder zurückrufen kannst. Ich will dir bloß sagen, dass du mir ganz schrecklich, schrecklich fehlen wirst. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schrecklich. Und es tut mir schrecklich, schrecklich leid, dass du nicht auf Nimmerwiedersehen aus diesem Drecksloch abhauen konntest, wie du gesagt hast – irgendwohin, wo es warm ist. Dann wärst du jetzt
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