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Todesopfer

Todesopfer

Titel: Todesopfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
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ich – und die sehr
geringe Anzahl der Jungen, die daraus hervorging –, reichte wohl bis ins Herz ihrer Andersartigkeit. Ihre eigene Seltenheit machte sie – zumindest in ihren Augen – zu etwas ganz Besonderem.
    Jungen, die in die Gemeinschaft der Trows hineingeboren wurden, mussten vor einer schweren Entscheidung stehen: zu akzeptieren, was sie waren, die enormen Vorteile zu genießen und mit der schrecklichen Realität ihres Entstehens zurechtzukommen – oder fortzugehen und die Zerstörung aller Dinge und Menschen zu riskieren, die man sie schätzen und lieben gelehrt hatte. Ich wusste jetzt, dass Duncan mich nicht verlassen wollte; dieses Leben war es, aus dem er ausbrechen wollte. Ich wusste, warum der Umzug zurück auf die Shetlands ihn so deprimiert hatte, trotz der riesigen Vorteile, die sich ihm dadurch boten, wieso unsere Beziehung solchen Belastungen ausgesetzt gewesen war. Duncan hatte gegen die Mächte angekämpft, die ihn wieder auf die Inseln trieben. Bei dem Gedanken daran tat mir das Herz weh, doch dies war ein Kampf, den er fürs Erste allein ausfechten musste. Ich hatte im Augenblick eigene Probleme, und so oder so ahnte ich, dass er nicht dabei war, diesen Kampf zu gewinnen.
    Â 
    Die Finsternis vor mir nahm langsam Gestalt an. Allmählich glaubte ich, sogar kleine Lichter ausmachen zu können. Ich näherte mich Tronal. Ich rollte die Fock auf, und das Boot wurde um etliche Knoten langsamer. Mittlerweile konnte ich Zacken und Kanten der Klippen erkennen und sogar einen helleren Bereich; das musste der Sandstrand sein. Das Echolot funktionierte jetzt. Fünfzehn Meter, vierzehn, dreizehn …
    Wellen brachen sich am Ufer. Zehn Meter, neun … Gerade wollte ich das Boot in den Wind drehen, damit ich das Segel einholen konnte, als ich Felsen an Backbord erblickte. An Steuerbord schien alles klar zu sein, doch ich würde das Boot fast um 300 Grad drehen müssen, und ich war mir nicht sicher, ob ich dafür noch genügend Fahrt machte. Wieder schaute ich nach Backbord: noch mehr Felsen. Ich befand mich in fünf Meter tiefem Wasser, vier, Meter, drei… So schnell ich konnte, griff ich nach
vorn, zog das Schwert hoch und ließ das Großsegel ausrauschen. Dann schloss ich die Augen und hielt die Ruderpinne fest umklammert. Der Wind kam von achtern, und das Boot glitt weiter voran, bis ein scharrendes Geräusch unter dem Rumpf und ein heftiger Ruck mir verrieten, dass wir auf den Strand gelaufen waren. Das Boot rutschte noch etwa einen Meter weiter und kam dann zum Stehen.
    Rasch holte ich alles, was ich brauchte, aus der Kajüte. Dann stand ich auf dem schmalen Deck und starrte Tronal an, die geographische Festung, die zu stürmen ich im Begriff war. Seit Anbeginn der Zeit haben sich die Menschen auf Inseln zurückgezogen, um sich durch das Wasser vor Eindringlingen zu schützen. Doch es war nicht nur die Insel, der ich mich gegenübersah, sondern die Feste der Trows – eine unsichtbare, aber komplexe Struktur, kommandiert von äußerst mächtigen Männern. Sie waren stark, sie konnten andere Menschen hypnotisieren. Es nützte nicht viel, mir zu sagen, dass sie schließlich bloß Menschen waren. Seit Generationen glaubten sie, anders zu sein.
    Wenn man etwas nur inbrünstig genug glaubt, dann wird es letzten Endes zu einer Art Wahrheit.

36
    Der sanft ansteigende Strand war schmal und mit Felsbrocken übersät, die in der Dunkelheit schwarz schimmerten. Auf allen Seiten ragten niedrige, zerklüftete Klippen über mir auf. Sie schienen sich zu regen, und beinahe hätte ich vor Schreck aufgeschrien. Dann entspannte ich mich wieder. Die Klippen boten Hunderten von nistenden Seevögeln Zuflucht, und ich sah Scharen weißer Bäuche, flatternder Schwingen, nickender Köpfe vor dem Schwarz der Granitfelsen.
    Ich zog den Anker aus seinem Kasten und ging mehrere Schritte weit den Strand entlang, bis ich ihn hinter einem kleinen Felsen verkeilen konnte. Vorausgesetzt, dass ich es wieder bis zum Strand zurückschaffte, würde das Boot auf mich warten. Dann warf ich den kleinen Rucksack über die Schulter, den ich mitgebracht hatte, und machte mich auf den Weg.
    Ich hielt auf die niedrigste Stelle der Klippe zu. Es war viel zu dunkel, um etwas deutlich ausmachen zu können, und alle paar Sekunden stolperte ich oder rutschte aus. Am Rand des Strandes begann ich zu

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