Todesregen
was sich auf seiner rissigen Rinde ausbreitete. Als Molly die Augen zusammenkniff, um trotz des trüben Lichts etwas zu erkennen, sah sie, dass auf dem Stamm eine schwarze, grün gefleckte Kruste wuchs.
Ähnliche Flechten hatte Molly zwar schon gesehen, doch keine irdische Flechte besaß leuchtende Elemente wie diese da. Jeder einzelne smaragdgrüne Fleck phosphoreszierte schwach, nicht gleichmäßig, sondern pulsierend. Vermutlich
war dieser Rhythmus dem langsamen Pochen der Maschinen des Kolosses angepasst, der vor Kurzem am Himmel vorbeigezogen war.
Am Rand der einzelnen Gebilde breitete sich die Flechte so aggressiv in alle Richtungen aus, dass man ihr Wachstum wie im Zeitraffer beobachten konnte. In der Minute, in der Molly und Neil die Kruste studierten, nahm sie um einen guten Zentimeter zu.
Bei dieser Geschwindigkeit würden der Stamm und sämtliche Äste innerhalb weniger Stunden mit dem schuppigen Grind bedeckt sein.
Flechten, erinnerte sich Molly, waren komplexe symbiotische Organismen, die aus einem mit Algen oder Bakterien zusammenlebenden Pilz bestanden. Ihr Wachstum fügte dem Baum, der sie beherbergte, oft keinerlei Schaden zu.
Die Pinie da würde die Verkrustung jedoch höchstwahrscheinlich nicht überleben. Wenn sie nicht von einer Fäulnis ausgehöhlt würde, die so fremdartig war wie der Organismus, der ihre Rinde kolonisierte, dann würde sie durch den Befall mutieren und zum genetischen Ebenbild einer Pflanze aus einer anderen Welt umgeformt werden.
Die smaragdgrün pulsierenden Flecken, von denen die schwarze Kruste bedeckt war, strahlten einen hellen Glanz aus. Unter weniger düsteren Umständen hätte man sich vorstellen können, dass der Baum mit unzähligen Edelsteinen geschmückt war, die magisch funkelten.
Leider war die Pinie nicht von einer märchenhaften Aura umgeben. Ganz im Gegenteil, trotz des Funkelns, und obwohl der Prozess offenbar erst vor Kurzem begonnen hatte, sah der Baum aus, als wäre er von Krebs befallen und mit bösartigen Geschwüren bedeckt.
Virgil hatte sich der Pinie nicht genähert, sondern war auf dem Plattenweg geblieben, wachsam und angespannt.
Molly teilte den Argwohn des Hundes. Sie berührte die Flechte nicht, denn sie fürchtete, das Ding könnte an
ihrer Fingerspitze haften bleiben und in der Lage sein, die menschliche Haut genauso rasch zu kolonisieren wie eine Baumrinde.
Auf der anderen Seite des Wegs stand eine gleich große Pinie. Selbst im Dämmerlicht war zu erkennen, dass auch darauf smaragdgrüne Punkte funkelten.
Virgil führte die beiden die Stufen zur Haustür hoch.
Im Haus brannten weder Kerzen noch Öllampen noch eine andere Notfallbeleuchtung. Bis auf den schwachen Widerschein des violetten Lichts, das den träge wallenden Nebel durchdrang, waren die Fenster dunkel.
Wenn Molly und Neil hineingingen, ohne zu klopfen, riskierten sie, von den Bewohnern erschossen zu werden.
Befanden sich im Haus jedoch Kinder, die bereits in Gefahr waren – durch Michael Render oder etwas noch weniger Menschliches –, dann erhöhten Molly und Neil ihr Risiko, wenn sie sich ankündigten.
Ihr Dilemma löste sich teilweise, als das Schloss der Haustür sich mit einem Klicken von selbst öffnete.
Reflexartig traten sie einen Schritt zurück und zur Seite, um kein allzu offensichtliches Ziel zu bieten.
Virgil wich nicht von der Stelle.
Die Tür schwang rasch nach innen auf. Obgleich nur das schwache Morgenlicht die kleine Diele erhellte, sah Molly genug, um feststellen zu können, dass niemand zugegen war. Es war, als hätte ein Gespenst sie empfangen.
Der ins Haus führende Flur blieb so dunkel wie ein Schlangenloch.
Molly zückte ihre Taschenlampe, damit Neil beide Hände für die Flinte frei hatte.
Tapfer betrat Virgil vor dem Lichtstrahl her das Haus.
Von der Schwelle aus richtete Molly die Taschenlampe in den Flur. Ein schmaler Tisch, auf dem zwei Vasen standen. Eine Tür am anderen Ende. Eine unmittelbare Bedrohung war nicht erkennbar.
Uneingeladen und unangekündigt in dieses fremde Haus einzudringen erforderte starke Nerven und zudem volles Vertrauen zu dem Hund, der sie hierhergeführt hatte. Zwar hatten sich alle Hunde in der Kneipe äußerst ungewöhnlich verhalten, und besonders Virgil hatte mit seiner Rose demonstriert, dass er Mollys Vorhaben offenbar begriff, aber dennoch brachte sie nicht den Mut auf, ihm zu folgen. Neil zögerte ebenfalls.
Als Reaktion auf dieses Zögern wandte Virgil den beiden den Kopf zu und betrachtete
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