Todesreigen
Mimik, Hände und Körpersprache eines Zeugen genau beobachten, seinen Worten zuhören und dann entscheiden sollen, was der Wahrheit entspricht und was nicht.
Im Fall
Der Staat gegen Hartman
hatten sich die Geschworenen zwei Stunden lang zurückgezogen. Tribow und seine Assistenten hatten sich währenddessen in der Cafeteria des Gebäudes gegenüber dem Gericht verkrochen. Niemand sprach ein Wort. Ein Teil dieses Schweigens resultierte aus ihrem Unbehagen – wenn nicht gar einer peinlichen Berührtheit – wegen Tribows unergründlichen Fragen nach dem Spielzeug, das Hartman angeblich für den Sohn des Opfers gekauft hatte. Wahrscheinlich dachten sie, dass selbst erfahrene Ankläger hin und wieder einmal nervös werden und sich ungeschickt anstellen konnten und dass solch ein Aussetzer besser in einem Fall wie diesem hier passierte, der anscheinend sowieso nicht zu gewinnen war.
Danny Tribow hatte sich mit geschlossenen Augen in einen hässlichen orangefarbenen Fiberglassessel sinken lassen. Im Geist spulte er Hartmans kontrollierten Auftritt und die Behauptungen der Zeugen noch einmal ab, von Hartman weder bedroht noch bestochen worden zu sein.
Jeder
von ihnen war bezahlt oder bedroht worden, das wusste er. Doch er musste zugeben, dass sie einigermaßen glaubwürdig geklungen und ausgesehen hatten; wahrscheinlich ging es den Geschworenen nicht anders. Im Großen und Ganzen hatte Tribow großen Respekt vor dem Geschworenensystem. Vielleicht kamen sie in dem kleinen Beratungsraum hinter dem Gerichtsgebäude trotz allem zu dem Schluss, dass Hartman gelogen und auch die Zeugen zum Lügen gezwungen hatte.
Und dass er des vorsätzlichen Mordes schuldig war.
Doch als er die Augen öffnete und Adele Viamonte und Chuck Wu betrachtete, erinnerten ihre mutlosen Gesichter ihn daran, dass die Chancen auch nicht schlecht dafür standen, dass in diesem speziellen Verfahren die Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben würde.
»Gut«, sagte Viamonte. »Den vorsätzlichen Mord bekommen wir nicht durch. Wir haben immer noch die beiden anderen Anklagepunkte. Und sie
müssen
ihn einfach wegen Totschlags verurteilen.«
Müssen
sie?, dachte Tribow. Er glaubte nicht daran, dass dieses Wort sich auf irgendeinen Geschworenenspruch anwenden ließ. Die Verteidigung hatte großartige Arbeit geleistet, um Valdez’ Tod als Unglücksfall darzustellen.
»Wunder passieren«, sagte Wu in jugendlichem Enthusiasmus.
In diesem Augenblick klingelte Tribows Handy. Der Gerichtsdiener kündigte an, dass die Geschworenen ihre Beratung beendet hatten.
»Dass sie so schnell zurückkommen – ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?«, fragte Wu.
Tribow trank seinen Kaffee aus. »Das werden wir gleich herausfinden.«
»Meine Damen und Herren Geschworenen, sind Sie zu einem Ergebnis gelangt?«
»Das sind wir, Euer Ehren.«
Der Sprecher, ein Mann mittleren Alters in einem karierten Hemd und in dunkler Hose, reichte dem Gerichtsdiener ein Stück Papier, das dieser zum Richter brachte.
Tribow behielt Hartman im Blick, doch der Mörder saß mit gleichmütigem Gesichtsausdruck zurückgelehnt auf seinem Drehstuhl. Er reinigte einen Fingernagel mit einer Büroklammer. Falls er sich Sorgen um das Ergebnis dieser Verhandlung machte, dann zeigte er es jedenfalls nicht.
Der Richter las den Zettel schweigend und warf dann einen Blick auf die Geschworenen.
Tribow versuchte vergeblich, den Gesichtsausdruck des Juristen zu deuten.
»Der Angeklagte möge sich erheben.«
Der Richter gab das Blatt an den Gerichtsdiener weiter, der vorlas: »Im Fall des Volkes gegen Raymond C. Hartman, was den ersten Anklagepunkt betrifft, Mord ersten Grades, befinden die Geschworenen den Angeklagten für nicht schuldig. Im zweiten Punkt, Mord zweiten Grades, befinden die Geschworenen den Angeklagten für nicht schuldig. Im dritten Punkt, Totschlag, befinden die Geschworenen den Angeklagten für nicht schuldig.«
Einen Moment lang herrschte völlige Stille im Gerichtssaal, unterbrochen nur von Hartmans geflüstertem »Ja!«, zu dem er eine Faust in Siegerpose in die Luft reckte.
Der Richter, der eindeutig empört über das Urteil war, ließ den Hammer auf sein Pult knallen und sagte: »Das reicht jetzt, Mr. Hartman.«
Schroff fügte er hinzu: »Wenden Sie sich an den Gerichtsdiener, damit er Ihnen den Reisepass und Ihre Kaution zurückgibt. Ich hoffe nur, dass – sollten Sie jemals wieder irgendeines Vergehens angeklagt werden – Sie in
meinem
Gerichtssaal landen.«
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