Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
keine Ahnung, wer, und es war ihm auch völlig egal. Das Einzige, was auf diesem Schiff wichtig war, lag neben ihm: seine Familie. Arna murmelte etwas, aber er konnte kein Wort verstehen. Ihre Augen bewegten sich unruhig unter den weißen Lidern, und ihre Beine zuckten. Dann wurde plötzlich wieder alles ruhig, und sie sah ganz friedlich aus. Ægir hoffte, dass sie nicht schlecht geträumt hatte. Lára und er hatten versucht, so zu tun, als sei alles in Ordnung, hatten ihre Angst und Unsicherheit überspielt, aber vielleicht zu gezwungen gewirkt. Sie wollten gar nicht daran denken, dass die Mädchen spüren könnten, wie ernst die Lage an Bord auf einmal war. Früher oder später müssten sie es ihnen ohnehin erzählen, damit sie nicht von ihrer Seite wichen.
Ægir lauschte auf die Schritte über ihnen. Er schaute an die Decke, als rechne er damit, dass der Mann plötzlich ein Loch in den Boden sägen und Gipskörnchen auf sie regnen würden. Die Kabinentür war gut abgeschlossen, was natürlich eine Selbsttäuschung war, denn ein erwachsener Mann konnte mit Leichtigkeit in ihr Zimmer eindringen. Außerdem musste es irgendwo auf der Brücke oder anderswo an Bord einen Universalschlüssel geben. Wenn jemand hereinwollte, musste er die Tür gar nicht aufbrechen. Aber darüber war Ægir nicht beunruhigt – er glaubte nicht, dass die Männer an Bord sich auch nur im Geringsten für sie interessierten. Jedenfalls noch nicht.
Seit er Lára nach unten geholt und sie sich mit den Mädchen eingeschlossen hatten, waren mehr als sieben Stunden vergangen. Die ganze Zeit über hatte niemand geklopft oder nach ihnen gerufen. Als hätte die Mannschaft sie komplett vergessen. Was Ægir gar nicht schlimm fand. Er wäre durchaus dazu bereit, still in der Kabine zu verharren, bis sie nach Island kämen, selbst wenn sie dann fast verhungern müssten. Sie hatten im Badezimmer Leitungswasser, das würde ihm reichen. Aber die Mädchen würden sich bestimmt nicht damit abfinden, tagelang nichts zu essen zu bekommen. Er musste sich also irgendwann wieder bemerkbar machen, nicht unbedingt, weil sich seine Töchter beklagten, sondern weil sich die Besatzung sonst wunderte. Dann würde vielleicht jemand zwei und zwei zusammenzählen und dahinterkommen, dass sie mehr wussten, als sie vorgaben zu wissen, und zur Tat schreiten. Es wäre feige und einfach, sie dort drinnen kaltzumachen, zum Beispiel wenn sie schliefen und sich nicht verteidigen konnten.
Die Schritte über ihm hielten an, und Ægir spürte, wie Adrenalin in seine Adern schoss. Er fand es schlimmer, wenn der Mann stand, als wenn er sich bewegte. Das konnte bedeuten, dass er etwas ausheckte. Ægir wusste, dass das ein völlig falscher Schluss sein konnte, aber es änderte nichts daran, wie er sich fühlte. Er hielt sogar die Luft an und wartete darauf, dass der Mann wieder losging. Nichts geschah. Dann knarrte etwas, vielleicht ein Stuhl oder ein Sofa, und Ægir versuchte herauszufinden, welches Zimmer direkt über ihnen lag. Am ehesten das Wohnzimmer. Dann mussten zwei Männer oben sein, einer auf der Brücke und der andere im Wohnzimmer. Ægir setzte sich auf und schob die Decke vorsichtig zur Seite, um die anderen nicht zu wecken. Vielleicht wäre es klug, raufzugehen und mit ihnen zu reden, dann müssten sie sich vor morgen Mittag nicht mehr blicken lassen. Am besten, ihre Abwesenheit wirkte so natürlich wie möglich, Ægir würde in regelmäßigen Abständen raufgehen und jammern, seine Frau und die Kinder seien seekrank. Dann könnte er Lebensmittel holen, wobei er darauf achten musste, ganz ruhig zu wirken. Als hätten sie keine Ahnung, dass jemand an Bord etwas mit der toten Frau aus der Kühltruhe zu tun hatte. Das war zwar angesichts der jüngsten Ereignisse ziemlich naiv, ließ sich aber nicht ändern. Wenn er auch nur die geringste Angst zeigte, bestand die Gefahr, dass er etwas tat oder sagte, was sich nicht mehr rückgängig machen ließ.
Ægir stand vom Bett auf und blieb einen Moment stehen, um sich an das Schaukeln zu gewöhnen. Ungefähr eine Stunde, nachdem sie sich eingeschlossen hatten, war die Yacht plötzlich weitergefahren. Vielleicht hatte die Mannschaft es geschafft, den Container loszumachen, oder der Kapitän hatte einfach entschieden, es darauf ankommen zu lassen. Konnte die Lage an Bord noch schlimmer werden? Es war aussichtslos, auf dem offenen Meer herumzutreiben und auf Hilfe zu warten. Die Kommunikationsgeräte waren funktionsunfähig, so dass
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