Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
Der gesamte Anfangstext war sehr positiv für Dóras Fall. Dort stand klar und deutlich, dass es absoluter Zufall war, dass Ægir auf Initiative des Kapitäns angeheuert worden war. Es war schwer vorstellbar, wie Ægir einen Versicherungsbetrug hätte planen sollen, dessen wichtigste Voraussetzung es war, dass ein gänzlich Fremder ihm vorschlug, mit der Lady K zu fahren.
Der letzte Eintrag im Logbuch wies auch nicht darauf hin, dass Unvorhergesehenes in der Luft lag, obwohl es kurz darauf geschehen sein musste, denn alle folgenden Seiten waren entfernt worden. Der Kapitän schrieb jedoch, dass die Kommunikationsgeräte nicht in Ordnung seien und man versuche, sie zu reparieren. Zu dem Zeitpunkt hatte die Yacht noch Funkkontakt, doch bis auf das schlechtverständliche Gespräch des Kapitäns mit dem britischen Trawler am nächsten Tag hatte niemand etwas von der Yacht gehört. Warum hatte niemand versucht, einen Hilferuf abzusetzen oder das Problem zu melden? Die Vorstellung, dass womöglich nur noch ein Mann übrig geblieben war, der die Yacht zur Küste von Grótta und von dort mit einem seltsamen Schlenker durch die Faxaflói-Bucht in den Hafen von Reykjavík gelenkt hatte, war unheimlich. Vielleicht konnte derjenige, der am Steuer saß, nicht mit dem Autopiloten und dem GPS umgehen. Und das war gar nicht positiv für Dóras Fall: Die Einzigen, die kaum Ahnung von der Seefahrt hatten, waren Ægir und Lára und natürlich die Zwillinge. Aber die zählten ja wohl nicht.
Dóras Augen brannten, nachdem sie die Logbucheinträge angestiert hatte, um etwas zu finden, das die ganze Sache begreiflicher machte. Als sie die Blätter einsammelte, ärgerte sie sich wieder über die fehlenden Seiten. Sie hätte alles dafür gegeben, zu erfahren, was daraufgestanden hatte. Wenn sie doch nur in der schwer entzifferbaren, altmodischen Schrift des Kapitäns Antworten auf ihre vielen Fragen finden könnte, eine Erklärung für den Leichenfund, den er über das defekte Funkgerät gemeldet hatte, und eine Beschreibung der Ereignisse, die zum Verschwinden der Leute geführt hatten. Warum waren die Seiten herausgerissen worden? Um sie für etwas anderes zu verwenden, um ein Loch zu stopfen oder einfach nur als Zeichenpapier? Es führte zu nichts, sich den Kopf darüber zu zerbrechen – die fehlenden Blätter schwammen irgendwo im Wasser oder lagen auf dem Meeresgrund, wo die Fische versuchten, aus der Schrift schlau zu werden. Das, was vom Logbuch übrig war, das Seefähigkeitsattest und die anderen Bescheinigungen mussten für Dóras Bericht reichen. Ob das die Versicherung überzeugte, würde sich noch herausstellen.
Nachdem Dóra ihren Bericht unter Berücksichtigung der neuen Informationen geändert hatte, las sie ihn zum hundertsten Mal durch und druckte ihn dann ernüchtert aus. Sie hatte sich so intensiv mit dem Thema beschäftigt, dass sie nicht beurteilen konnte, ob er gelungen war, und beschloss, bei einer Tasse Kaffee auf andere Gedanken zu kommen.
»Verdammte Scheißkälte«, knurrte Bella im Flur.
Geschmolzener Schnee tropfte von den Schultern ihres Anoraks, und ihr Haar, in dem Schneeflocken hafteten, schimmerte feucht. Dóra wich zurück, als sie sich wie ein Hund schüttelte.
»Wo warst du?«, fragte sie.
»Ich musste für Bragi ein paar Sachen ins Bezirksgericht bringen.«
Bella stampfte mit den Füßen auf, um den Schneematsch von den Schuhen zu bekommen. Auf dem hellen Parkett bildeten sich zwei schwarze Fußabtritte, die auf dem warmen Boden sofort ihre Form verloren.
»Ich musste am Arsch der Welt parken und bin auf dem Rückweg am Hafen vorbeigefahren. Die Polizei turnt auf deiner Yacht herum.«
»Ach ja?«
Dóra wusste nicht genau, warum sie sich darüber wunderte. Wahrscheinlich hatten die Ermittlungen etwas Neues ans Licht gebracht, oder die Polizei musste neue Proben nehmen.
»Hast du gesehen, was sie gemacht haben?«
»Nee, da standen nur zwei Streifenwagen neben der Yacht, und ein Polizist hat an Deck rumgeschnüffelt. Vielleicht heizen sie ja den Whirlpool auf.«
Dóra verkniff sich einen Kommentar und beschloss, an die frische Luft zu gehen.
Der Kaffee beim Auflösungsausschuss war besser als der in der Kanzlei, und Dóras Enttäuschung, Ægirs Eltern nicht zu Hause angetroffen zu haben, schwand. Sie musste den Bericht in den Briefkasten quetschen, aus dem Zeitungen und Briefe quollen und wie ein missglückter Blumenstrauß in alle Richtungen ragten. Wobei Dóra durchaus Verständnis
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