Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
geschenkt, da es an Bord keine Waffe geben sollte. Die neue Inventarliste änderte das schlagartig, obwohl man an Bord keine Schussspuren gefunden hatte. In dem Kästchen fehlten sechs Kugeln. Die Pistole musste benutzt worden sein, nachdem der Gutachter auf der Yacht gewesen war, denn laut seinem Bericht war das Kästchen voll und die Pistole nicht geladen gewesen.
Dóra bekam ihre Kopie und steckte sie in die Tasche. Bevor sie sich verabschiedete, bat sie der Polizist, am Nachmittag auf der Wache vorbeizuschauen. Er müsse wegen ihrer Mandantin Lára mit ihr sprechen. Auch wenn er nichts weiter dazu sagte, konnte Dóra an seinem Gesicht ablesen, dass es keine guten Neuigkeiten waren.
Das Telefonat hatte sich bisher ausschließlich darum gedreht, wie furchtbar das alles war und wie sehr Lára von ihren Kollegen vermisst würde. Dóra hatte mehrmals vergeblich versucht, das Gespräch auf ihr eigentliches Anliegen zu lenken, aber die Frau war einfach zu erschüttert. Im Gegensatz zu Ægir, dessen Kollegen unmittelbar von seinem Verschwinden und den Ermittlungen betroffen waren, waren Láras Kollegen überhaupt nicht in den Fall involviert und wussten nur aus den Medien davon. Dennoch löcherte die Frau sie nicht, sondern erkundigte sich nur nach der Zukunft von Láras kleiner Tochter und der großen Trauer, mit der die Familie zu kämpfen hatte. Nach längerem Hin und Her kam Dóra endlich zum Zug:
»Der Grund, warum ich anrufe, ist, dass ich vielleicht eine Kollegin von Lára bitten muss, über sie auszusagen. Jemand, der ihr zugetan ist und sämtliche Vermutungen, sie wollte sich absetzen, ausräumen kann.«
»Absetzen?«
Die Stimme der Frau sagte alles, was es über diese Theorie zu sagen gab.
»Das ist reine Formsache. Niemand ist ernsthaft dieser Meinung. Wären Sie dazu bereit? Sie scheinen sie gut gekannt zu haben.«
»Ja, allerdings. Wir haben uns ein Büro geteilt und hatten viel Kontakt zueinander. Wobei wir hier in der Buchhaltung nur zu fünft sind.«
Lára arbeitete bei einer großen Softwarefirma, und Dóra war froh, eine so enge Kollegin an der Strippe zu haben.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Jetzt, wo endlich alles so gut aussah, Ægir war wieder zufrieden mit seinem Job …«
»War er denn vorher unzufrieden?«, fiel ihr Dóra ins Wort.
»Ja, doch, doch, schon. Er war vorher bei der Bank, die pleitegegangen ist, um die sich der Auflösungsausschuss kümmert. Er war da nicht allzu glücklich, viele seiner Studienkollegen sind schneller aufgestiegen als er und hatten mehr Verantwortung. Lára hat mir erzählt, er hätte wegen der Zwillinge zurückstecken müssen, die Mädchen waren oft krank, als sie klein waren, und Lára und Ægir mussten die Krankheitstage untereinander aufteilen. Das wurde in dieser Bank nicht gerne gesehen, anders als bei uns. Hier ist das selbstverständlich. Was sollen Banken machen, wenn keine Kinder mehr geboren werden? Kredite an Tote vergeben? Was würden sie da wohl für Zinssätze erzielen?«
Dóra ging nicht auf das Thema ein und fragte:
»Aber zuletzt war er zufrieden, sagen Sie?«
»Ja, das hat Lára jedenfalls erzählt. Der Job beim Auflösungsausschuss war ganz anders. Er musste sich nicht stundenlang anhören, wie sich seine Kollegen gegenseitig mit Geschichten vom Luxusleben übertrumpfen. Ich habe ihn ein bisschen kennengelernt, bei Betriebsfeiern und so, er war wirklich ein netter Kerl. Nicht der Typ, der unbedingt zur High Society gehören wollte. Aber es war gut, dass er nicht länger da arbeiten musste. Man weiß ja nie, was so was auf die Dauer mit einem macht. Man wird automatisch immer gieriger.«
»Er hat also gerade noch die Kurve gekriegt?«, fragte Dóra und hoffte inständig, dass die Frau ihr zustimmen würde. Zweifel an Ægirs Ehrbarkeit konnte sie überhaupt nicht gebrauchen.
»Ja, ich denke schon. Zum Glück. Sie waren immer sehr vorsichtig und haben nie über ihre Verhältnisse gelebt, was viele an seiner Stelle gemacht hätten. Das einzig Übertriebene, wovon Lára mir erzählt hat, war diese Lebensversicherung.«
»Darüber hat sie gesprochen?«, fragte Dóra und setzte sich auf ihrem Stuhl zurecht.
»Ja, vor ein paar Jahren. Da hat er noch bei der Bank gearbeitet, und in seinem Freundeskreis haben sie mit der Höhe ihrer Lebensversicherungen geprahlt. Können Sie sich so was vorstellen?«
Dóra konnte es nicht. Sie sah sich im Geiste absolut nicht mit Bragi über so etwas wetteifern. Oder mit Bella. Aber
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