Todesstoß / Thriller
mich an, endlich aufzuwachen, um ihr und dem Baby zu helfen. Aber es war zu spät. Sie hatten schon zu viel Blut verloren.« Er schluckte und stellte vorsichtig das Bild zurück. »Ich habe ihre Stimme noch sehr, sehr lange in meinem Geist gehört.«
Eve wischte sich über die tränenfeuchten Wangen. »Es war nicht deine Schuld.«
»Nein. Aber das änderte nichts.«
Sie legte das Kinn auf ihre Knie. »Winters ist wie ein schlechter Ohrwurm, der mir nicht aus dem Kopf geht. Er ist im Gefängnis gestorben. Wurde unter der Dusche erstochen.«
»Ich weiß. Und ich bin froh darum, denn ich wäre versucht gewesen, es selbst zu tun.«
Er meinte es vollkommen ernst, und seltsamerweise gab ihr das ein Gefühl der Geborgenheit. »Am Tag, als ich erfuhr, dass er tot war, waren alle bei Caroline – du weißt schon, Toms Mutter. Sie wollte ein Picknick machen, aber ich konnte nicht hingehen, konnte niemandem ins Gesicht sehen. Dana blieb bei mir zu Hause.«
»Verständlich.«
»Vielleicht. Aber manchmal frage ich mich, was gewesen wäre, wenn mich jemand aus dem Haus gescheucht hätte. Ob ich mich dann auch so lange versteckt hätte.«
»Das wirst du nie herausfinden, Liebes. Glaub mir, ich habe viel zu oft darüber nachgedacht, was wohl gewesen wäre, wenn. Und jedes Mal endete ich im Vollrausch.«
»Du hast recht. Ich weiß das auch, und ich gebe auch niemandem die Schuld. Außer vielleicht mir selbst.«
»Tja, das muss aufhören, und zwar hier und jetzt.« Er rieb mit dem Daumen über ihre feuchten Wangen. »Du hast ihn besiegt, Eve. Du bist am Leben.«
»Und du auch.«
»Mit sehr viel Unterstützung meiner Familie, ja. Und nun sind wir beide hier.«
Und wohin gehen wir?
Eve warf einen Blick auf das Foto der wunderschönen Familie, die er verloren hatte. »Ich kann dir keine Familie wie diese geben.«
Er presste die Kiefer zusammen. »Ich habe dir gesagt, dass mir das nichts ausmacht.«
»Und ich glaube dir noch immer nicht. Du bist ein so guter Mensch. Du müsstest Vater sein. Wenn du deine Meinung einmal änderst, dann … würde ich es verstehen.«
Selbst im Dunkeln konnte sie wahrnehmen, dass seine Augen aufblitzten. »Eve, langsam gehst du mir gehörig auf die Nerven.« Er legte sich flach auf den Rücken und starrte an die Decke. Dann seufzte er. »Willst du den Rest der Nacht da ganz allein herumsitzen?«
»Wohl nicht«, meinte sie zögernd.
»Komm her.« Er wartete, bis sie gehorchte, und drückte sanft ihren Kopf an seine Schulter. »Vielleicht entscheidest
du,
dass du mich gar nicht willst«, sagte er pragmatisch, obwohl sie die Verwundbarkeit in seiner Stimme hörte. »Vielleicht kommt irgendein junger Kerl vorbei, den du viel attraktiver findest als mich. Wir wissen nicht, was passiert, Eve. Aber im Augenblick ist es das, was wir haben.«
Sie legte den Kopf zurück, um ihn anzusehen. »Im Augenblick ist es das, was ich will.«
»Gut«, sagte er. »Lass uns schlafen. Ich weiß aus vertraulicher Quelle, dass man immer nur einen Tag nach dem anderen angehen kann.«
Sie kuschelte sich an ihn, legte ihre Hand auf seine behaarte Brust und hätte fast gekichert. Sie war auf absurde Weise glücklich, weil sie nie gedacht hätte, dass sie jemals erleben würde, wie sein Brusthaar an ihrer Handfläche kitzelte, wie sich sein pochendes Herz anfühlte. Zufrieden rieb sie mit der Nase über seine Haut und atmete seinen Duft ein. Und stellte fest, dass sie schlicht und ergreifend glücklich war.
»Eve?«
»Hmm?«
»Wie war es zu sterben?«
Sie hob den Kopf und war nicht überrascht, seine grünen Augen ausdruckslos vorzufinden. »Das wird für jeden anders sein.«
»Aber wie war es für dich?«
Ihr Blick wanderte wieder zu dem Foto. Wie entsetzlich musste es gewesen sein, mitzuerleben, wie diejenigen, die man liebte, litten und starben, ohne dass man sie retten konnte.
»Es war …«, sie suchte nach den richtigen Worten, »geradezu verlockend.
Komm. Ruh dich aus.
Ich hatte keine Angst, aber ich war wütend. Ich war erst achtzehn, und ich wollte nicht gehen. Zweimal war ich klinisch tot. In der Zeit dazwischen hörte ich, wie die Ärzte mich anschrien, ich sollte bei ihnen bleiben, und ich wollte zurückbrüllen, dass ich es ja versuchte. Und das war der Moment, als ich Angst bekam. Es war wie … wie Treibsand. Mein Fuß fand einfach keinen Halt und rutschte immer wieder weg. Das zweite Mal war es noch schwerer. Ich wollte bloß Ruhe finden. Aber ich kämpfte trotzdem. Und schaffte es zurück.
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