Todesstunde
Fleisch, eine Suppe mit Pilzen und Lauch und dekantierten alten Wein. Sein Geruchssinn war so empfindlich, dass er sogar glaubte, die unterschiedlichen Düfte unterscheiden zu können, die das olfaktorische Epithel durchdrangen, das weit oben in seiner Nase gelegene briefmarkengroße Gewebe.
»Jetzt, Sir?«, flüsterte der glubschäugige Oberkellner im Smoking hinter ihm.
Wie abgemacht durfte nur der Oberkellner ihn bedienen oder mit ihm sprechen. Berger erwiderte nie etwas, sondern gab seine Wünsche durch eine Reihe zuvor festgelegter Gesten mit dem Kopf und der Mimik weiter. Er hatte sogar verlangt, die Vorhänge zuzuziehen, weil er Wert auf größtmögliche Dunkelheit legte.
Berger, gierig nach den herrlichen Aromen wie ein Junkie nach Drogen, ließ noch einen Moment verstreichen. Schließlich nickte er kaum merklich.
Das Schnippen des Oberkellners war wie ein Startschuss, auf den hin in weiße Jacken gekleidete Kellner mit Tellern hereinkamen. Eigentlich sahen die Teller eher wie Tabletts aus. Serviert wurden Brioches, Kaviar, Quiche, gegrillte Ente, Crème brûlée, Austern, eine safranfarbene Soße und viele andere Leckereien. Um welche Mahlzeit genau es hier ging, ließ sich nicht sagen.
Vielmehr wurde hier alles serviert, eine Kombination aus Frühstück, Mittagessen und Abendessen.
Berger legte sich sofort ins Zeug. Das Erste in seiner Reichweite war ein noch warmes Baguette. Krümel flogen umher, als er von diesem ein Stück abriss, in eine Schale mit weißer Trüffelbutter tauchte und sich in den offenen Mund schob, ohne diesen beim Kauen zu schließen. Unter lauten Geräuschen schlürfte er an einem Glas Cabernet, von dem er einen großen Teil vergoss. Blutrote Rinnsale liefen unbeachtet an seinem Kinn hinab, doch er griff bereits nach der Austernplatte.
Er war sich sehr wohl bewusst, dass er jegliche Tischetikette außer Acht ließ. Es bestand kein Zweifel: Er hatte eine Schwäche für Essen. Wenn es ums Essen ging, war er überwältigt, beinahe süchtig nach dem Geruch und dem Geschmack und in letzter Zeit nach der Beschaffenheit. Er war sogar so unverhohlen gefräßig, dass er auf Besteck verzichtete und wie ein Wilder mit bloßen Händen zugriff, um seine obsessiven Freuden zu steigern. Der Genuss von Essen war zu etwas Schamlosem, fast Erschreckendem und dennoch in einem sehr realen Sinn zu etwas Göttlichem geworden.
Wie die berühmten Mörder, die Berger so sehr bewunderte, war sein Verlangen nach bestimmten Dingen so intensiv, dass andere Menschen ihn entweder nicht verstanden oder Angst hatten, überhaupt darüber nachzudenken.
Der Oberkellner räusperte sich. »Noch etwas Wein, Sir?«, flüsterte er Berger ins Ohr.
Berger nickte und grub seine Fingernägel in die Ente, der er mit bloßen Händen die knusprige, fettige Haut vom Leib riss.
Nicht nur etwas, sondern viel mehr, dachte Berger und stopfte seinen Mund, bis sich seine Wangen blähten. Mehr. Mein Lieblingswort.
40
Um zwei Uhr nachmittags stieg Berger am Grand Army Plaza in Manhattan aus einem Taxi. Schicker, als er in seinem weißen Nadelstreifenanzug von Alexander McQueen war, ging nicht mehr. In seiner rechten Hand trug er eine braune Papiertüte, in seiner linken hielt er seinen Glücksstock, in dem ein rasiermesserscharfer Säbel steckte. Der Griff, ein Totenschädel aus Zinn, war unter seiner Hand verborgen.
An der Sixth Avenue bog er nach rechts ab und ging die mit Bäumen und Sandsteingebäuden gesäumte Straße einen Block weiter, bis er an einer Kirchentreppe stehen blieb. Vor dem Spiegelbild im Fenster eines geparkten Fahrzeugs bekreuzigte er sich und knöpfte seine Jacke auf, um seine Hermès-Krawatte und sein handgenähtes Hemd von Turnbull & Asser zu zeigen. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für christliche Bescheidenheit.
Er zählte die Hausnummern durch, bis er die 485 erreichte, trat auf die kleine Veranda und drückte mit seinem Stock auf die Klingel.
Der Mann – rote Haare und irgendwas über vierzig –, der die Tür öffnete, trug ein Fordham-T-Shirt und eine glänzende schwarze Basketball-Hose, beides bespritzt mit Spachtelmasse.
»Mr. Howard?«, fragte der Mann und strich sein Haar zurück. »Was führt Sie denn hierher?«
Berger lächelte. »Ich war gerade hier in der Gegend. Da fiel mir ein, dass Sie hier wohnen, und ich dachte, ich schaue mal kurz rein.«
Der Mann hieß Kenneth Cavuto. Er war Immobilienanalyst bei Lehman Brothers gewesen, bis die Investmentbank in der Finanzkrise Pleite
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