Todesstunde
Keine Adresse, keine Sozialversicherungsnummer, keinen Führerschein. Vielleicht sollte ich auch Die 39 Hinweise lesen, dachte ich und startete den Wagen. Denn egal, was wir taten, dieser grässliche, rätselhafte Fall schien kein Ende zu finden.
Während ich über die erhöhte Schnellstraße fuhr und die Sonne rechts von mir über der Silhouette von Queens aufging, klingelte mein Telefon. Steve Makem meldete sich, der diensthabende Sergeant im 19. Revier.
»Was ist los, Sarge?«
»Sie sind doch der Zuständige im Fall Berger, oder? Also, aufgepasst. Er sollte gerade zur Anklagevernehmung abgeholt werden, aber er wurde in seiner Arrestzelle nicht ansprechbar aufgefunden.«
Nur mit Mühe konnte ich verstehen, was er sagte. In Erinnerung an meine Nahtoderfahrung durch Telefonieren am Steuer legte ich kurz mein Telefon ab und fuhr auf den Randstreifen.
»Noch mal von vorne, Steve«, bat ich.
»Die Sanitäter sind drin, aber ich habe ihn gesehen, Mike. Molli ist von seiner Rolltrage geplumpst. Sein Gesicht ist erdbeerrot. So eine Farbe habe ich noch nie gesehen. Es ist etwas Schlimmes passiert, was genau, weiß ich nicht.«
78
Es war etwas Schlimmes passiert. Das war mir nach zwanzig Minuten Sirenengeheul auch klar, als ich in Bergers Arrestzelle im hinteren Teil des 19. Reviers stürzte.
Berger war aus dem Bett gefallen. Auch sein Hintern hing wieder im Freien, wie ich mit Schrecken feststellen musste.
Die Sanitäter waren längst fort, an ihre Stelle war eine dünne Gerichtsmedizinerin getreten, Alejandra Robles, mit der ich bereits zusammengearbeitet hatte.
Ich besah mir den Toten, an dem Alejandra ihre Untersuchungen durchführte. Er hatte alles gehabt – Ausbildung, Reichtum, die tollste Wohnung in Manhattan – und sich dann hierfür entschieden? Mit Plastiksprengstoff herumhantieren? Kinder umbringen? Selbstmord begehen? Er war der Mensch, auf den ich mir bisher am wenigsten einen Reim machen konnte, und das hieß schon was.
Das Schlimmste war, dass mir alles wie inszeniert vorkam. Die Menschen, die getötet worden waren, schienen für Bergers fünfzehnminütigen widerlichen Ruhm gekauft worden zu sein.
Ich versuchte nicht daran zu denken, was dies bedeutete, daran, in welche Zukunft die Menschheit steuerte. Doch ich konnte die Gedanken nicht unterdrücken.
Alejandra kniete vor Berger und leuchtete mit einer Lampe in seinen Mund.
»Ich vermute, er hat Probleme, ›ah‹ zu sagen«, witzelte ich.
»Ihre Vermutung ist korrekt.« Sie winkte mich zu sich. »Ich vermute zudem, es war Gift. Zyanid, von dem hellroten Ausschlag aus zu schließen, aber das wissen wir erst nach der toxikologischen Untersuchung.« Sie lenkte den Schein der Lampe auf seine oberen Backenzähne. »Schauen Sie sich das an. Sehen Sie diesen Backenzahn? Das ist kein Loch, sondern ein falscher Zahn. Hier scheint er das Gift versteckt zu haben. Ist doch unglaublich, oder?«
Nachdem Berger hinausgerollt worden war, rief ich vom Flur vor dem Büro der Detectives im ersten Stock Emily Parker in ihrem Hotel an. »Wenn du geglaubt hast, der Windelbomber war verrückt, dann setz dich erst mal hin«, sagte ich, als sie sich meldete.
»Ihr habt Carl gefunden?«, vermutete sie.
»Nö. Es geht um Berger«, antwortete ich. »Er ist tot. Selbstmord. Er hat Gift in einem ausgehöhlten Zahn verwahrt, höchstwahrscheinlich eine Zyanidkapsel wie ein Nazispion. Kommt doch gut auf einem Grabstein: ›Lawrence Berger, komisches Leben, komischer Tod, komisch im Herzen seiner Landsmannschaft‹.«
»Moment, hast du Zyanid gesagt? Bleib dran, ich hole nur schnell meine Notizen. Heilige Scheiße! Er hat es wieder getan. Genau so ist es schon mal passiert. Maggie O’Malley, eine Krankenschwester, die als ›dunkler Engel von Bellevue‹ bezeichnet wurde, schluckte eine Zyanidkapsel, nachdem sie angeklagt worden war, Anfang der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts mehrere Babys umgebracht zu haben.«
»Ich muss mir öfter Geschichtssendungen im Fernsehen ansehen«, sagte ich, während ich mir die Schläfen massierte.
D RITTER T EIL E IN F REUND , EIN GUTER F REUND …
79
Mittags um zwölf hielt ein Unfall mit drei Fahrzeugen den Verkehr auf dem Sunrise Highway drei Kilometer westlich von Hampton Bays auf Long Island auf.
Hinter dem Lenkrad des Mercedes-Cabrio beobachtete Carl Apt einen Streifenwagen der Autobahnpolizei von Suffolk, der links von ihm, gefolgt von einem Krankenwagen, auf dem grünen Mittelstreifen vorbeifuhr. Mit
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