Todestanz
ein eisiges Dokument seiner Verzweiflung. Wieder zog er die Küchentür hinter sich zu. Noch zehn Sekunden.
Dreiundzwanzig
»Hey, Doc.« Charlie Wang hatte sich von seinem Bildschirm losgerissen und blinzelte wie ein Maulwurf in der Sonne. »Alles okay?«
»Es geht mir wunderbar«, versicherte ihm Clare. »Waren Sie die ganze Nacht auf?«
»Schätze schon, wenn es jetzt Morgen ist.« Er hakte die Sicherheitskette aus und zog die Tür auf. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Es ist schmutzig, ich weiÃ. Sie müssen entschuldigen.«
Die Vorhänge waren geschlossen und die Fenster auch. Der groÃe Raum, in dem Charlie Wang arbeitete, aà und schlief, muffelte nach altem Essen, Kaffee und SchweiÃ. Charlie schubste ein paar Pizzakartons unters Sofa und zupfte an einem Vorhang, der daraufhin komplett von der Stange rutschte.
»Ich gebâs auf, ich gebâs auf.« Charlie sah zur Vorhangverblendung auf. »Es tut mir leid für dich. Und für Sie tut es mir auch leid, Doc â wegen der Unordnung, meine ich.«
»Wenn ich es hätte aufgeräumt haben wollen, wäre ich zu Hause geblieben«, lächelte Clare.
»Ich will mir das gar nicht vorstellen, Doc. Ich wette, Sie waren heute schon Laufen, haben nur Obst gefrühstückt und anschlieÃend fünfhundert Situps absolviert.« Er tätschelte seinen Bauch. »Ich sehe aus wie ein Computerfuzzi, ich rieche wie ein Computerfuzzi, und Sie werden nie scharf auf mich sein.«
»Vielleicht nicht auf Ihren Körper«, sagte Clare. »Aber ganz bestimmt auf Ihren Verstand.«
»In diesem Schwarz sehen Sie echt Angelina-mäÃig aus, aber Sie sind nicht hier, weil Sie mit mir Tomb Raider spielen wollen, oder?«
»Heute nicht«, bestätigte Clare.
»Sie brauchen noch mehr Stoff für Ihre Mord-Stadtpläne?« Charlie Wang fuhr sich durch die Haare. »Die Psychogeografie Ihrer vermissten Mädchen; deshalb sind Sie doch hier, oder?« Seit Clare ihre Forschungen aufgenommen hatte, hatte Charlie Wang Karten für sie gezeichnet und die nackten Angaben von StraÃen, U-Bahnlinien und Häusern mit den Koordinaten jener Orte versehen, an denen Mädchen verschwunden und an denen sie tot aufgefunden worden waren.
»Ich habe schon wieder eine.« Clare lieà das Album, das sie von Shazia bekommen hatte, auf die Tischplatte fallen und stapelte daneben die digitalisierten Aufzeichnungen aus den Ãberwachungskameras auf. »Noch nicht tot.«
Charlie Wang blätterte in den Fotos. Er pfiff durch die Zähne. »Zu hübsch.«
»Sie ist seit gestern Abend verschwunden«, erzählte Clare. »Bis jetzt fehlt von ihr jede Spur.«
»Ich habe das bei all Ihren kleinen Persephones probiert. Bis jetzt hat es noch nie etwas gebracht. Vielleicht funktioniert es einfach nicht.«
»Die anderen gingen alle auf den Cape Flats verloren«, widersprach Clare. »AuÃerhalb der Reichweite der Kameras. Darum konnten sie auch nirgendwo aufgenommen werden. Dieses kleine Mädchen ist mitten in einem reichen, gut überwachten Viertel unterhalb des Tafelbergs verschwunden. Sie wird irgendwo zu sehen sein. Auf irgendeiner Kamera. Sie muss.«
»Clare.« Charlie schüttelte den Kopf. »Wir haben das schon durchexerziert.«
»Sie ist sechs Jahre alt.« Clare streckte ihm ein Strandbild von Yasmin entgegen. Blaues Meer, roter Badeanzug, gelber Eimer mit Schaufel.
»Okay.« Charlie seufzte. »Wer ist sie?«
»Yasmin Faizal.«
»Von Captain Faizal? Die Tochter von diesem Bandenjäger?«
»Genau die.«
»Sind Sie von Sinnen?« Charlie warf ihr den Weekend Argus zu. »Sehen Sie sich das an. Die Zeitung schreibt, er hätte sie entführt.«
»Ihr Vater hat mich beauftragt, sie zu finden«, sagte Clare.
»Es wäre was Neues, wenn es diesmal nicht der Vater wäre«, sagte Charlie. »Das wissen Sie selbst. In diesem Ihrem Land ist es praktisch immer so. Vater, Stiefvater, Onkel, Bruder, Cousin. Meistens steckt irgendeiner aus der Familie dahinter.«
»Diesmal nicht, glaube ich«, widersprach Clare.
»Die Alternativen sind nicht besser«, beschwor Charlie Wang. »Wenn er es nicht war, dann will ihm einer dieser Gangster was anhängen, die er verhaften will. Wir können uns schon mal aussuchen, wie wir sterben wollen. Bei einem Drive-by-Shooting? Oder wollen wir uns
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