Todeswatt
Teller der Gäste aufzufüllen, übernahm Dirk diese Aufgabe. Das ignorante Verhalten seines Vaters regte ihn auf. Auch wenn er sonst nicht im Haushalt half, so konnte er doch zumindest heute seiner Frau zur Hand gehen. Dirk machte gute Miene zum bösen Spiel. Was brachte es schon, wenn er das jetzt thematisierte? Nichts außer Streit, und den wollte er seiner Mutter an ihrem Ehrentag ersparen.
Das Essen verlief einigermaßen harmonisch. Anne erzählte von einem Aufsatz, den sie letzte Woche in der Schule geschrieben hatte. Er handelte von einer kleinen Hummel und …
Thamsens Gedanken gingen plötzlich auf Reisen und er nahm die Worte seiner Tochter gar nicht mehr wahr. Zu groß war sein Ärger über seinen egoistischen Vater, der wahrscheinlich gleich die Erzählungen seiner Enkelin unterbrechen würde, um sich selbst wieder mit einer seiner Geschichten über den Kegelklub oder aus seiner Zeit beim Finanzamt in Szene zu setzen. Er blickte zu ihm hinüber. Wie er so dasaß, mit zusammengekniffenen Augen und dem herrischen Mund. Er lauerte nur auf den richtigen Moment, um Anne zu unterbrechen. Schon öffneten sich seine dünnen, blutleeren Lippen und …
»Dirk?«
Thamsen fuhr erschrocken auf. Er war zu sehr auf seinen Vater fokussiert gewesen und hatte gar nicht mitbekommen, dass seine Tante sich an ihn wandte.
»Hm?« Er drehte seinen Kopf und schaute von einem verwunderten Gesicht zum anderen.
»Wie es Iris geht?«, wiederholte seine Mutter die Frage und lächelte ihm zu, um ihm in der unangenehmen Situation ihre Unterstützung zu signalisieren.
Er räusperte sich. »Ja, also …« Wie ging es seiner Exfrau? Wenn er ehrlich war, hatte er in der letzten Zeit wenig mit ihr zu tun gehabt und sich auch nicht nach ihrem Befinden erkundigt. »Soweit ich weiß, ganz gut«, antwortete er daher.
»Soweit du weißt. Wahrscheinlich weißt du gar nichts, oder habt ihr noch regen Kontakt?«
Sein Vater schaute ihn provokativ an und Thamsen schüttelte innerlich den Kopf über die Aggressivität dieser verbalen Attacke.
Zumal er sich eine solche Aussage – abgesehen von seiner Schwester – in diesem Raum am allerwenigsten leisten konnte. Schließlich kümmerte er sich noch weniger um andere und erst recht nicht um seine eigene Frau. Thamsen spürte einen Wutkloß seinen Hals hinaufwandern und musste kräftig schlucken. »Doch«, log er, nur um zu provozieren, »immerhin sind wir Eltern, da hat man ja eine gemeinsame Verantwortung.«
»Ha, Verantwortung«, sein Vater tat, als amüsiere er sich köstlich. Die anderen schwiegen betreten und seine Mutter schaute ihren Mann bittend an. Aber der war in seinem Element. Ohne seine Eltern käme sein Sohn bis heute nicht zurecht. Ständig halse er ihnen die Kinder auf, um sich in der Weltgeschichte herumzutreiben. Angeblich, um irgendwelche Verbrecher zu jagen, aber wie man sah, war er ja nicht einmal dazu in der Lage.
»Hans«, bemühte Magda Thamsen ihren Mann nun mit Worten zu bremsen, doch er ignorierte sie, wie er es immer tat.
»Ja, wieso läuft denn schon wieder ein Mörder in Nordfriesland frei herum?«
Der Kloß in Thamsens Hals nahm monströse Ausmaße an und als sein Vater sich auch noch über die Alkoholsucht der Ex-Schwiegertochter und Dirks Vernachlässigung seiner Erziehungspflichten ausließ, platzte ihm endgültig der Kragen.
»Und du?«, schrie er. Die Kinder schauten ängstlich auf ihren Vater und auch die anderen Gäste verfolgten den Schlagabtausch zwischen Hans und Dirk Thamsen mit großen Augen. »Du hast dich doch nie um mich gekümmert. Du Egoist!«
*
Am nächsten Tag wartete Haie bereits eine ganze Weile, als Tom endlich auf den Schulhof fuhr. Er hatte heute extra früh mit der Arbeit begonnen, um eine längere Pause machen zu können, da sie zu Thamsen fahren und ihm von ihrem Verdacht erzählen wollten. Nachdem Tom von dem Termin des Spediteurs mit Arne Lorenzen berichtet hatte, war selbst Marlene der Meinung, Sönke Matthiesen habe wahrscheinlich etwas mit dem Mord zu tun. Allerdings hatte sie auch deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie es jetzt für angemessen hielt, den Kommissar einzuschalten.
Thamsens Dienststelle befand sich direkt neben dem Krankenhaus. Tom bog von der Gather Landstraße ab und parkte direkt vor dem Gebäude aus rotem Ziegelstein, in dem sich neben der Polizei-Zentralstation und der Kriminalpolizeiaußenstelle auch das Katasteramt befand.
»Wir möchten zu Kommissar Thamsen.«
»Der ist in einer
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