Todeswunsch - Robotham, M: Todeswunsch - Bleed For Me
Er lebte noch, konnte jedoch nicht mehr fliegen. Ein winziges Rotkehlchen, das mit wie wild pochendem Herzen in der Ecke des Kartons kauerte.
»Können Sie irgendwas machen?«, fragte sie.
»Es ist zu spät«, erklärte ich ihr.
Sienna stellte den Karton auf ihren Schoß und strich mit den Fingern durch die zarten Federn am Hals des Rotkehlchens, bis es starb. Ich musste ihre Finger von dem Karton lösen, um ihn wegzubringen. Als ich wieder ins Haus kam, war Sienna verschwunden. Sie hat es nie wieder erwähnt. Mit keinem Wort.
Ich weiß all diese Dinge, weil sie so viel Zeit bei uns verbracht hat. Manchmal war es, als säße eine dritte Tochter am Abendbrottisch (und dann wieder beim Frühstück), weil ihre Mutter nachts arbeitete, ihr Vater oft beruflich unterwegs war und ihre älteren Geschwister das Haus verlassen hatten.
All das sind oberflächliche Details, die mir nichts über den wahren Menschen verraten. Manchmal habe ich Sienna beobachtet und gedacht, ich könnte eine heimliche Traurigkeit erkennen, die sie vor der Welt verbarg. Als würde sie eine Maske tragen, um sich zu schützen – eine Maske von der Sorte, die am schwersten zu erkennen ist, weil sie sie aus den heimlichsten Fäden ihres Ichs gewoben hatte.
Die meisten Menschen fliehen oder kämpfen, wenn sie sich mit einer Gefahr konfrontiert sehen, doch es gibt eine dritte, weniger naheliegende Reaktion, die genauso instinktiv sein kann. Die Menschen erstarren und machen dicht, sie denken und handeln in Zeitlupe. Sie erschaudern, sie zittern, halten die Luft an, schlucken, aber sie können weder fliehen noch kämpfen
noch schreien. Irgendetwas ist Sienna zugestoßen – ein gewalttätiges Erlebnis hat sie traumatisiert.
Der fette Arzt wendet sich von dem Infusionsständer ab. Auf seinem Namensschild steht Dr. Martinez.
»In den nächsten sechs Stunden wacht sie bestimmt nicht auf.«
»Was ist mit ihren Eltern?«
»Ihre Mutter ist unterwegs.«
»Sollten Sie sie nicht auf eine Vergewaltigung untersuchen?«
»Dazu brauche ich ihre Einwilligung.«
»Sie könnten die Kleidung untersuchen lassen.«
Er blickt zu dem Constable im Flur. »Vielleicht sollten Sie gar nicht hier sein.«
Einen Moment lang flattern Siennas Lider auf. Sie starrt mich an, erkennt mich jedoch offenbar nicht.
»Hallo«, sage ich bemüht aufmunternd.
Ihre Augen fallen wieder zu.
4
Um vier Uhr werde ich von einem Detective befragt, der grob die Fakten von mir geschildert haben will, ohne selbst weitere Details preiszugeben. Es ist kein freundliches oder vertrauenerweckendes Gesicht, in das ich blicke. Der Mann hat eine merkwürdige Oberlippe, die sich beim Sprechen kräuselt, was den Eindruck erweckt, dass er kein Wort von dem glaubt, was ich sage.
Schließlich darf ich nach Hause gehen. Ich rufe Julianne an und bitte sie, ein paar frische Kleider und ein Paar Schuhe mitzubringen.
»Was ist denn mit deinen passiert?«
»Die Polizei hat sie mir abgenommen.«
Sie möchte die Mädchen nicht allein lassen. Charlie ist erst nach zwei Uhr und dann auch nur in Juliannes Bett eingeschlafen, zusammengerollt wie ein Knäuel.
»Was, wenn jemand durchs Dorf rennt und Leute absticht?«, fragt Julianne.
»Es war nicht Siennas Blut.«
»Was ist dann mit ihr geschehen?«
Ich habe keine Erklärung.
Sie zögert und überlegt, was sie machen soll.
»Ich bitte Mrs. Nutall, auf die Mädchen aufzupassen. Gib mir eine halbe Stunde.«
Mrs. Nutall ist unsere Nachbarin. Meine Nachbarin ist sie streng genommen natürlich nicht mehr, sodass ich mir nicht mehr jedes Mal ihre Beschimpfungen anhören muss, wenn ich das Haus verlasse. Sie ist Mitte sechzig und unverheiratet und
scheint mich persönlich für jede Sünde, Brüskierung und Abfuhr verantwortlich zu machen, die sie je durch einen Mann erlitten hat. Die Liste muss ziemlich lang sein.
Ich gehe auf die Toilette, wasche mir das Gesicht und spüre eine irritierende Last auf den Schultern. Warum ist Siennas Mutter noch nicht hier? Die Polizei müsste sie doch mittlerweile aufgespürt haben.
Ich kenne Helen kaum. Wir haben ein oder zwei Mal Übernachtungen der Mädchen besprochen und uns an der Tankstelle oder im Supermarkt zugenickt. Sie trägt meistens eine Cargo-Hose und einen alten Pullover und scheint immer in Eile zu sein. Ihren Mann Ray Hegarty habe ich ein paar Mal im Fox & Badger getroffen. Er ist ein Expolizist, ein Detective und laut Hector Träger einer Tapferkeitsmedaille. Jetzt führt er ein privates
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