Todeswunsch - Robotham, M: Todeswunsch - Bleed For Me
jedenfalls nicht — es ist ein simpler mentaler Vorgang, bei dem das Gehirn eine Situation aufnimmt und eine Schnellsuche der eigenen Dateien durchführt, um aus der Masse von Erinnerungen und Wissen eine unmittelbare Entsprechung auszuwerfen, einen ersten Eindruck.
Deswegen ist es bei Quizspielen häufig das Beste, sich an die erste Antwort zu halten, die einem in den Sinn kommt, weil jener erste Gedanke auf einem Hinweis des Unterbewusstseins fußt; ein Wissen, das sich nicht in Worte fassen oder verteidigen lässt. Wenn man über dieselbe Frage zu lange nachdenkt, fangen die höheren Hirnfunktionen an, Beweise zu verlangen.
Der Trick besteht darin, das eigene Gehirn darauf zu trainieren, die Hinweise aufzugreifen. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass Sienna Hegarty ihren Vater nicht getötet hat. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie jemanden schützt. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass Gordon Ellis mehr weiß, als er zugibt. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass zwischen den beiden – Lehrer und Schülerin – etwas war, eine Freundschaft, die eine Grenze überschritten hat.
Seit vier Tagen beschäftigt mich dieses Problem. Ich bin die Sitzung mit Sienna und die Reaktion von Ellis im Kopf noch einmal gründlich durchgegangen. Und ein weiteres Bild ist mir
wieder eingefallen: Gordon Ellis, der bei der Probe auf der Bühne in die Augen eines jungen Mädchens blickt, ein Finger unter ihrem Kinn. Sie wollte geküsst werden, wollte sich ergeben … Er wollte Kontrolle.
Ich erinnere mich an Ellis’ Blick, der von den geweiteten Pupillen des Mädchens über ihre geröteten Wangen, ihren entblößten Hals und ihren ungeschützten Körper wanderte. War es der Blick eines routinierten Manipulators oder der eines engagierten Lehrers? Lag in seinen Augen die lüsterne Gier des Jägers oder war alles nur harmloses Theater?
Es ist Samstagvormittag. Ich sitze im Café Medoc in Bath und blicke auf die Pulteney Bridge und den Weg, der am Ufer nach Norden an den Arkaden der Bibliothek vorbeiführt. Ein Stück flussabwärts verwandelt ein Wehr das Wasser in braunen Schaum. Enten paddeln oberhalb des Wasserfalls, als würden sie darauf warten, dass eine Rampe geliefert wird.
Annie Robinson setzt sich und stellt ihre bunte Hippie-Schultertasche auf den Boden. Sie trägt eine Steppjacke über einer Bluse und dünne Wollstrümpfe.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie mich anrufen, Joseph O’Loughlin.«
»Wieso?«
»Sie haben so verlegen gewirkt, als wir uns zum letzten Mal gesehen haben.«
»Ich war nicht verlegen.«
Sie lacht. »Ich meine mich zu erinnern, dass Sie nicht wussten, wohin Sie gucken sollten.«
Kaffees werden bestellt und gebracht. Sie löffelt Schaum von ihrem Cappuccino und hält den Löffel im Mund.
»Sie lassen einer Frau ja nicht viel Zeit. Normalerweise würde ich mich nie auf ein Date einlassen, zu dem ich erst am selben Vormittag eingeladen werde. Sind Sie von einer anderen versetzt worden?«
»Es ist eigentlich kein Date«, sage ich und rudere sofort zurück.
»Ich meine, ich wollte Sie privat treffen, aber ich habe es nicht als ein – ein Date betrachtet, ich meine…«
Sie lacht wieder und zwinkert mir zu.
»Keine Sorge, Joseph O’Loughlin. Ich bin nicht beleidigt, wenn wir es nicht als Date bezeichnen.«
Offenbar findet Annie meinen vollen Namen amüsant. »Erzählen Sie mir«, sagt sie, »da wir uns als zwei Freunde privat treffen – was machen Sie beruflich?«
»Ich bin klinischer Psychologe. Und bitte nennen Sie mich Joe.«
»Nennt Ihre Frau Sie so?«
»Ja.«
»Dann werde ich Sie Joseph nennen. Haben Sie eine Praxis?«
»Nicht mehr. Ich unterrichte an der Universität. Teilzeit.«
Sie nickt, scheinbar zufrieden. »Finden Sie die Wochenenden auch am schwersten?«
»Am schwersten?«
»Das Alleinsein. Wenn ich arbeite, ist es egal, weil ich beschäftigt bin, aber die Wochenenden sind einsamer.«
»Wie lange ist es her?«, frage ich.
»Drei Jahre, seit wir uns getrennt haben. Zehn Monate seit der Scheidung. Ich hab bis zum Schluss gehofft. Und Sie?«
»Ich bin noch nicht geschieden.«
» Oh, ich dachte … das wusste ich nicht.« Ihre Stimme überschlägt sich kurz.
»Waren Sie immer Vertrauenslehrerin?«, frage ich in dem Bemühen, sie zu retten.
»Früher habe ich Geschichte unterrichtet. Mein Vater meinte, es wäre das perfekte Fach, weil es immer neuen Unterrichtsstoff geben würde.«
»Selbst wenn die Geschichte sich wiederholt?«
»Weil wir nie daraus lernen.«
Sie lächelt,
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