Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
Obduktion sie zwei, drei Stunden lang beschäftigen würden. Falls sich kein Hinweis auf die Identität des oder der Toten fand, wovon sie im Moment ausging, würde sie anschließend die Daten der Leiche ins System eingeben, um herauszufinden, ob die Überreste zu jemandem passten, der als vermisst gemeldet war.
Auch wenn die Todesursache vermutlich nicht mehr zweifelsfrei festgestellt werden konnte, mussten sie von einem Gewaltverbrechen ausgehen. Eine Mordkommission musste einberufen und der zuständige Staatsanwalt informiert werden. Jennifer hinterließ Freya deshalb eine Notiz, sie möge im Büro der Staatsanwaltschaft anrufen und einen Termin für zwei Uhr vereinbaren.
Die beiden jungen Männer, die die Überreste gefunden hatten, sollte sie um vier Uhr für eine Befragung in Jennifers Büro bestellen.
Der Fall würde so oder so an ihr hängen bleiben, darüber machte Jennifer sich keine Illusionen. Weshalb sie ihrem Chef einen Zettel mit der kurzen Nachricht hinterließ, dass sie alles Notwendige in die Wege leiten würde. Irgendwann diese Woche musste sie versuchen, ihn für ein ernstes Gespräch zu erwischen, denn ihnen wuchsen die Leichen nun endgültig über den Kopf.
Pünktlich um halb sieben saß sie in ihrem VW und legte grübelnd die viertelstündige Fahrt zur Echtermann-Klinik zurück.
Das weiße Gebäude erhob sich am Ende einer kurzen Allee, ein paar Querstraßen von den Hauptverkehrsadern entfernt. Mit seinen verspiegelten Fenstern und den großzügigen Balkons wirkte es eher wie ein Hotel als eine Klinik.
Ein Eindruck, der nicht unbedingt täuschte, denn die Echtermann-Klinik behandelte ausschließlich zahlungsstarke Privatpatienten und beherbergte neben den üblichen Stationen auch Abteilungen für plastische Chirurgie und Suchtbehandlung sowie einen Kurbereich.
Einrichtungen wie die Echtermann-Klinik, die Privatuniversität und das private Internat waren die Geld- und Machtquellen von Lemanshain. Ihnen, ihrer Kundschaft und den finanziell gut situierten Bürgern, die diese Institutionen anzogen, verdankte die Stadt ihre Unabhängigkeit und ihren eigenen Behördenapparat inklusive Amtsgericht und Staatsanwaltschaft, obwohl sie nur knapp fünfunddreißigtausend Einwohner zählte.
Die Stadt verdankte ihren Gönnern auch Leander Meurer, der als Professor der Rechtsmedizin einen ausgezeichneten Ruf genoss. Obwohl er dieser Fachrichtung schon länger nur noch als beratender Experte zur Verfügung stand, war es den Stadtoberen gelungen, ihn als Leichenbeschauer für Lemanshain zu gewinnen.
Jennifer wollte sich nicht ausmalen, was die Stadt sich ihren eigenen hochdotierten Gerichtsmediziner kosten ließ. Seine Berufung war ihr im Hinblick auf die drei bis fünf Leichen im Jahr, die normalerweise in seine Zuständigkeit fielen und bis auf seltene Fälle alles Unfalltote waren, ohnehin immer übertrieben erschienen. Ein Statussymbol, das man sich leistete, weil man es eben konnte – genauso wie den Obduktionsraum, dessen Ausstattung einer amerikanischen Krimiserie hätte entsprungen sein können.
Lemanshain war eine Stadt, in der die Kriminalitätsrate, besonders im Bereich Gewaltverbrechen, weit unter dem nationalen Durchschnitt lag. Polizei und Gerichtsbehörden waren deshalb entsprechend dünn besetzt.
Hier Polizist zu sein war keine besonders aufregende, sondern fast schon eine entspannte Aufgabe. Kein Vergleich zu Frankfurt, wo Jennifer zuvor gearbeitet hatte. Nachdem sie das Angebot zur Versetzung angenommen hatte und nach Lemanshain übergesiedelt war, war Jennifer von der Ruhe in ihrer neuen Dienststelle zunächst genervt gewesen. Inzwischen hatte sie sie jedoch zu schätzen gelernt.
Alles war in geordneten und gut organisierten Bahnen verlaufen. Bis der »Künstler« Anfang des Jahres aufgetaucht war und ihnen in Abständen von einigen Wochen bis zu drei Monaten immer neue Leichen serviert hatte.
Mit einem Serienkiller waren sie schon aufgrund der Mannstärke ihrer Truppe überfordert. Trotzdem weigerte sich der Magistrat der Stadt vehement, irgendeine Art von Amtshilfe in Hanau oder bei einer anderen größeren Behörde zu beantragen. Und Jennifers Vorgesetzte bis hin zum Polizeichef selbst folgten brav dem Willen des Bürgermeisters und der Abgeordneten.
Vermutlich werteten sie eine solche Anfrage als Unfähigkeitseingeständnis, eine Blöße, die sie sich keinesfalls geben wollten. Sie hatten Angst, dass die Unabhängigkeit, die sie der Stadt im Rahmen der gesetzlichen
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