Todfeinde
Warum aber machte es ihm dann nichts aus, Beute zu sein?
Er konnte diese Fragen nicht beantworten und wusste auch nicht, ob er das wollte. Stattdessen schüttelte er den Kopf, um diese Gedanken zu verscheuchen, konzentrierte sich wieder auf das Gelände und den Himmel, atmete die kalte Bergluft tief ein und lauschte auf das Rauschen des Windes in den Kronen, auf die Tritte der Pferde und auf das warme Knarren des Sattelleders.
Nachdem er die Pferde auf der Wiese festgebunden und sein Nachtlager aufgeschlagen hatte, zog Joe die Urne aus der Satteltasche und ging mit ihr den Hang hinab zum Bach. Er hatte überlegt, ob er die Asche auf dem Boden verteilen, in den Bach schütten oder in den Wind streuen sollte, war aber zu keinem Schluss gekommen. Nun entschied er sich für den Wind, kippte sie behutsam aus und beobachtete, wie der letzte Sonnenstrahl das grauweiße Pulver aufleuchten ließ, ehe es ins Gras schwebte.
»Ruhe in Frieden, Will.«
Mehr wusste er nicht zu sagen.
Gegen zehn Uhr am nächsten Vormittag hatte Joe schon vier Lager aufgesucht und arbeitete sich gen Norden in Richtung seiner Diensthütte vor. Zuvor hatte er Treys Rat befolgt und die Knoten an den Lasten des Packpferds frisch gebunden. Die Lager waren sauber gewesen, die Jagdführer freundlich und professionell. Jeweils zwei Jägern war ein Jagdführer zugeteilt, Jagdscheine und Abschussgenehmigungen waren gültig, und das erlegte Wild war ordnungsgemäß abseits der Lager aufgehängt worden. Die Jagdführer schienen erfreut, Joe kennenzulernen, und boten ihm etwas zu essen und Kaffee an. Sie redeten offen davon, wo sie die Wapitis vermuteten, wo sich weitere Lager befanden und welche Eigenarten andere Jagdführer besaßen. Wie die meisten Naturburschen, die in der Stadt kaum ein Wort herausbrachten, konnten die Jagdführer hier draußen kaum aufhören zu reden. Alle hofften auf Schnee, der die Herden weiter nach Süden und in ihre Richtung treiben würde.
»Sind Sie Smoke schon begegnet?«, war ihre häufigste Frage, und sie wurde ihm mal belustigt, mal verächtlich, mal ehrfürchtig gestellt.
Als Joe das sechste Lager verließ, fiel ihm auf, dass ihm die Gedanken vom Vortag kaum noch im Kopf herumgingen. Ob das an der Luft, der Höhe oder der Einsamkeit lag, wusste er nicht, doch er fühlte sich wieder normal – ohne den Nebel, der sich ihm, wie es schien, bei seiner Ankunft in Jackson ins Hirn geschlichen hatte. Vielleicht hatte er das einfach gebraucht, in die Berge zu reiten, allein zu sein und anständige Arbeit zu leisten.
Die Möglichkeit, dass Wills Tod kein Selbstmord gewesen war, ließ ihn dennoch nicht los – so wenig wie das Gefühl, von Marybeth und seinen Töchtern isoliert zu sein. Sie hätten bestimmt Freude an diesem Ausflug gehabt, allen voran Sheridan. Joe wünschte, sie könnten bei ihm sein.
Bei seinem Tempo würde er die Diensthütte, in der er für mindestens zwei Nächte bleiben wollte, vermutlich am späten Nachmittag erreichen. Er hatte vor, von dort die übrigen Lager im Einzugsgebiet des Yellowstone River zu überprüfen. Als sich der Pfad teilte, lenkte er sein Pferd gedankenverloren nach rechts und merkte erst nach drei Kilometern, dass dies ein Fehler gewesen war. Aus dem Pfad war ein schmaler Wildwechsel geworden, der im Zickzack den Wald hinauf führte. Die Bäume standen zu dicht, um die Pferde (vor allem das stark bepackte Tragtier) zu wenden. Also ritt er weiter bergan und hoffte auf eine Lichtung. Die Steigung wurde immer schlimmer und strengte die Pferde mehr und mehr an. Joe beugte sich im Sattel vor und erwartete jeden Moment, den Himmel durch die Bäume schimmern zu sehen und den Bergrücken zu erreichen.
Als der Wald sich endlich lichtete, ließ er die Pferde auf einem Grasfleck verschnaufen. Er nahm die Landkarte und kletterte auf den Höhenzug, um festzustellen, wo er war. Er identifizierte die Berge, die er sich Stunden zuvor zur Orientierung eingeprägt hatte, fuhr mit dem Finger den Abstand zur Diensthütte ab und merkte, dass er unabsichtlich eine Abkürzung genommen hatte. Wenn er den Berg auf der anderen Seite hinabritt, konnte er dem Clear Creek aufwärts folgen, sich der Hütte seitlich nähern und mindestens zwölf Kilometer sparen. Das würde die Zeit, die er durch seinen Irrtum vergeudet hatte mehr als wettmachen. Die Strecke wäre heikel, da es keinen richtigen Pfad für die Pferde gab, doch seine Tiere hatten bewiesen, dass sie der Aufgabe problemlos gewachsen waren.
Als er wieder
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