Todsünde
Wellen trugen weiße Schaumkronen. Randall Maginnes lag auf der rechten Seite in seinem Pflegebett, das Gesicht zur Fensterfront gewandt, so dass er den aufziehenden Sturm sehen konnte. Ein Platz in der ersten Reihe bei einem turbulenten Naturschauspiel.
Die Krankenschwester, die an seinem Bett saß, bemerkte die Besucherin und stand auf. »Hallo?«
»Ich bin Detective Rizzoli von der Bostoner Kriminalpolizei. Ich warte nur, bis Mrs. Maginnes zurückkommt; und da dachte ich, ich schaue mal bei Mr. Maginnes rein, um zu sehen, wie es ihm geht.«
»Sein Zustand ist mehr oder weniger unverändert.«
»Hat er seit dem Schlaganfall Fortschritte gemacht?«
»Wir machen nun schon seit ein paar Monaten Physiotherapie mit ihm. Aber das neurologische Defizit ist doch recht ausgeprägt.«
»Ist die Schädigung dauerhaft?«
Die Schwester warf einen verstohlenen Blick auf ihren Patienten und bedeutete Rizzoli dann, ihr vor die Tür zu folgen. Auf dem Flur sagte sie: »Ich rede nicht gerne über ihn, wenn er dabei ist. Ich weiß, dass er alles versteht.«
»Woran merken Sie das?«
»An der Art, wie er mich ansieht. Wie er reagiert. Er kann zwar nicht sprechen, aber sein Verstand funktioniert einwandfrei. Ich habe ihm heute Nachmittag eine CD mit seiner Lieblingsoper aufgelegt – La Boheme. Und ich habe Tränen in seinen Augen gesehen.«
»Das war vielleicht gar nicht die Musik. Sondern nur Frustration.«
»Er hat gewiss allen Grund, frustriert zu sein. Nach acht Monaten ist er der Genesung noch keinen Schritt näher gekommen. Da sind die Aussichten ziemlich düster. Er wird wahrscheinlich nie wieder gehen können. Er wird immer halbseitig gelähmt bleiben. Und was das Sprechen betrifft ...« Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Es war wirklich ein sehr schwerer Schlaganfall.«
Rizzoli wandte sich zur Zimmertür um. »Wenn Sie vielleicht mal eine Kaffeepause machen wollen, setze ich mich gerne so lange zu ihm.«
»Das würde Ihnen nichts ausmachen?«
»Nein, es sei denn, er braucht irgendeine spezielle Pflege.«
»Nein, Sie müssen gar nichts tun, nur mit ihm reden. Er wird Ihnen dankbar sein.«
»Ja. Das werde ich tun.«
Rizzoli ging zurück in den Salon und zog einen Stuhl dicht an das Bett heran. Sie setzte sich so hin, dass sie Randall Maginnes in die Augen schauen konnte. So, dass er ihrem Blick nicht ausweichen konnte.
»Hallo, Randall«, sagte sie. »Erinnern Sie sich an mich? Detective Rizzoli. Ich bin die Polizistin, die den Mord an Ihrer Tochter untersucht. Sie wissen doch, dass Camille tot ist, oder?«
Sie sah den Kummer in seinen grauen Augen aufblitzen. Ein Zeichen, dass er verstanden hatte. Dass er trauerte.
»Sie war ein wunderschönes Mädchen, Ihre Camille. Aber das wissen Sie ja. Wie sollten Sie das nicht wissen? Sie haben sie ja jeden Tag sehen können, als sie noch hier gewohnt hat. Sie haben beobachtet, wie sie heranwuchs und zu einer jungen Frau wurde.« Sie machte eine Pause.
»Und Sie haben gesehen, wie sie zusammenbrach.«
Die Augen starrten sie immer noch unverwandt an, lasen ihr jedes Wort von den Lippen ab.
»Wann habe Sie eigentlich angefangen, sie zu vögeln, Randall?«
Vor den Fenstern peitschten Sturmböen über die Bucht von Nantucket. Auch im schwindenden Tageslicht waren die Schaumkronen noch deutlich zu erkennen, wie weiße Stecknadelköpfe, die auf dem aufgewühlten Wasser tanzten.
Randall Maginnes sah Rizzoli nicht mehr in die Augen. Er hatte den Blick gesenkt und starrte krampfhaft auf den Boden.
»Sie ist erst acht, als ihre Mutter sich das Leben nimmt. Und plötzlich hat Camille keinen Menschen mehr außer ihrem Daddy. Sie braucht Sie. Sie vertraut Ihnen. Und was tun Sie?« Rizzoli schüttelte angewidert den Kopf. »Sie haben gewusst, wie labil sie war. Sie haben gewusst, warum sie barfuß im Schnee spazieren ging. Warum sie sich in ihrem Zimmer einschloss. Warum sie sich schließlich ins Kloster flüchtete. Sie war auf der Flucht vor Ihnen. «
Rizzoli beugte sich näher zu ihm hin. So nahe, dass ihr der Gestank seiner uringetränkten Windel in die Nase stieg.
»Das eine Mal, als sie zu Besuch nach Hause kam, dachte sie wohl, dass Sie sie nicht anrühren würden. Dass Sie sie wenigstens diesmal in Ruhe lassen würden. Immerhin hatten Sie das Haus voll Verwandtschaft, die zur Beerdigung gekommen war. Aber das hat Sie nicht abhalten können, oder?«
Die Augen mieden sie immer noch, starrten weiter nach unten. Sie kauerte sich neben das Bett. Rückte so nahe an ihn
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