Todtstelzers Schicksal
an.
»Hätte mir gleich denken können, dass Ihr keine Rettung benötigt, Hazel.«
Sie erwiderte das Lächeln. »Natürlich, das hättest du.«
Sie gingen langsam aufeinander zu. Gern wären sie gelaufen,
aber nach den vielen Dingen, die sie hatten vollbringen müssen
und die sie vollbracht hatten, waren sie todmüde. Sie begegneten sich in der Folterzelle und drückten einander ganz fest, und
jeder vergrub das Gesicht an der Schulter des anderen.
»Du bist meinetwegen gekommen«, stellte Hazel fest.
»Ihr wusstet ja, dass ich es tun würde«, sagte Owen. »Ich
dachte … ich hätte Euch verloren. Ich habe jedoch nie die
Hoffnung aufgegeben.«
»Nichts kann uns auf Dauer trennen«, sagte Hazel. »Nicht
nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben.«
Schließlich gaben sie einander frei und traten jeder einen
Schritt zurück, um sich gegenseitig von Kopf bis Fuß zu mustern, ob auch keine schwere Verletzung vorlag. Beruhigt lä
chelten sie sich wieder an und blickten sich im steinernen Gemach um.
»Schrecklicher Ort«, fand Owen. »Ihr würdet ja nicht glauben, welche Schwierigkeiten ich hatte, den Weg hierher zu
finden.«
»Verstehe ich das richtig, dass du einen Weg nach draußen
weißt?«
»O sicher! Habe ein Schiff nicht allzu weit von hier geparkt.
Wir können jedoch nicht sofort aufbrechen. Hier wartet noch
ein unerledigtes Geschäft auf uns. Scour.«
»O ja!« bekräftigte Hazel. »Er ist hinausteleportiert, aber ich
weiß wohin. Die einzige Zuflucht, die ihm noch verblieben ist.
Komm mit, Owen. Ich möchte dir etwas zeigen, was man den
Sommerstein nennt.«
Sie fanden den Weg leicht. Der Sommerstein brannte in ihren
Gedanken wie ein Leuchtfeuer und wurde immer heller, je näher sie ihm kamen. Sie trafen Scour dort an, der neben dem
Stein stand und im Vergleich zu ihm winzig wirkte, ihnen jedoch voller Trotz entgegenblickte. Die endlose graue Steinebene breitete sich ringsum aus, aber Owen und Hazel ignorierten
sie ebenso, wie sie es mit Scour taten; ihre Aufmerksamkeit
ruhte gebannt auf dem riesigen aufrechten Steinkegel. Beide
spürten sie den Kitzel des Wiedersehens. Und wie im Labyrinth des Wahnsinns hatten sie auch jetzt wieder das Gefühl,
sich in der Gegenwart von etwas Gewaltigem und Großartigem
zu befinden. Und darüber hinaus dämmerte ihnen langsam die
Gewissheit, dass der Sommerstein auch sie wieder erkannte …
»Es ist noch nicht vorbei«, sagte Scour fast gehässig. »Ihr
habt vielleicht die Körper meiner Brüder getötet, aber geistig
leben sie im Gedankenpool weiter, bewahrt und beschützt vom
Sommerstein und von unserem Willen. Und sobald ich Euch
mit der Macht des Steins vernichtet habe, beschaffe ich neue
Körper für sie und lade sie herunter, und die Blutläufer werden
von neuem leben. Ihr könnt uns nicht besiegen! Wir sind unsterblich. Wir wandeln in der Ewigkeit. Der Tod hat keine
Macht mehr über uns.«
»Ihr habt keine Macht«, hielt ihm Owen entgegen. »Im
Grunde habt Ihr nie welche besessen. Alles, was Ihr habt und
was Ihr seid, ist das, was Ihr dem Sommerstein ausgesaugt
habt. So sollte es nicht sein. Ich denke, es ist Zeit, dass wir diesem Wahnsinn ein Ende bereiten.«
Er verband sich mit Hazel, und sie verband sich mit ihm. Sie
vereinten sich geistig und wurden zu mehr als der Summe ihrer
Teile. Sie griffen mit ihren Gedanken hinaus und rührten an
den Sommerstein. Macht flammte in ihnen auf. Es war wie eine
Heimkehr, und sie leuchteten wie Sterne. Scour schrie auf und
musste den Blick abwenden, schirmte dabei die Augen mit dem
Arm ab. Etwas gesellte sich plötzlich zu ihnen auf die weite
Steinebene. Der Gedankenpool war erschienen und war doch
nicht ganz da, rotierte um den Sommerstein, enthielt fast hundert Seelen im Niemandsland zwischen Leben und Tod, die
darauf warteten, neue Körper in Besitz zu nehmen. Und Owen
und Hazel waren völlig mühelos in der Lage, die Verbindung
zwischen dem Gedankenpool und dem Sommerstein zu trennen. Fast hundert Seelen schrien lautlos auf, während sie unwiderruflich dahingingen, nachdem ihr künstlich verlängertes
Leben schließlich doch zu Ende gekommen war. Owen und
Hazel trennten sich geistig voneinander und fielen jeder in den
eigenen Körper zurück. Sie richteten ihre düsteren, unversöhnlichen Blicke auf Scour, den Letzten der Blutläufer.
Er starrte sie entsetzt an. »Was habt Ihr getan? Was habt ihr
nur getan? Ich spüre den Gedankenpool nicht mehr! Ich höre
meine Brüder nicht
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