Todtstelzers Schicksal
anging, aber man konnte nicht alles haben.
Außerdem hatte Evangeline derzeit alle Hände voll mit der
Klon-Bewegung zu tun. Schon vor Finlays Tod war sie tief in
die Klon-Politik verwickelt worden, und viele richteten inzwischen den Blick auf sie, was Führung und Inspiration anging.
Seit sich die Klon-Bewegung den Weg in die große Politik
erkämpft hatte, waren Spaltung und Korruption echte Probleme
geworden, und Evangeline widmete sich den internen Kämpfen, während sie sie gleichzeitig strikt gegen die Öffentlichkeit
abschottete. Sie hatte mehr als genug Arbeit, um sich auf Jahre
hinaus zu beschäftigen. Falls sie sich doch nur hätte selbst
überzeugen können, dass irgendetwas davon wirklich bedeutsam war …
»Lebe wohl, Finlay«, sagte sie leise zur geschlossenen Steintür des Mausoleums. »Endlich hast du Frieden, mein Liebster.
Schlafe wohl, bis ich mich zu dir geselle.«
Sie hatte eine schlichte Wohnung in einer bescheidenen Gegend der Stadt. Keine große Wohnung, aber sie lebte nun mal
auch allein hier. Sie entriegelte die Tür mit dem Abdruck der
Handfläche und trat müde ein. Die Tür schloss sich hinter ihr;
das Licht schaltete sich von selbst ein, und der Monitor auf
dem Beistelltisch verkündete in seinem üblichen pampigen
Tonfall, dass keine Nachrichten eingegangen waren. Evangeline stand lange schweigend im Flur, und von ihrem Mantel
tropfte es stetig auf den hässlichen Teppichboden, der als
Komplettlösung zum Mobiliar gehörte. Arme und Beine waren
bleischwer, und es fiel ihr schwer, den Kopf aufrecht zu halten.
Ihr war danach, sich einfach ins Bett zu legen und eine Woche
lang zu schlafen, aber in letzter Zeit hatte sie übertrieben viel
geschlafen, damit sie nicht nachdenken oder etwas fühlen
musste. Und Arbeit wartete noch auf sie, für die Konferenz der
Klon-Bewegung am nächsten Tag. Sie konnte sie nicht länger
vor sich herschieben.
Sie zog den durchnässten Mantel aus und hängte ihn an den
richtigen Haken. Sollte er ruhig tropfen! Es war egal. Und erst
in diesem Augenblick bemerkte sie, dass außer ihr noch jemand in der Wohnung war. Er stand ganz reglos im Schatten,
am gegenüberliegenden Ende des angrenzenden Raumes, wohin das Licht nicht reichte. Evangelines Herz machte einen
Satz, und sie holte scharf Luft, war plötzlich ganz wach. Sie
verschwendete keine Zeit auf die Überlegung, welcher ihrer
Feinde sie gefunden hatte; es gab einfach zu viele. Wichtig war
nur, dass es ein Profi sein musste, weil er die Sicherheitsanlagen überwunden hatte. Und sie trug keine Waffe bei sich. Sie
hatte nicht geglaubt, dass das für ein Begräbnis nötig war. Wie
dumm von ihr! Die Art Feinde, die sie sich gemacht hatte, verspürte keinen Respekt vor besonderen Anlässen. Sie sah sich
noch immer nach etwas um, was sie als Waffe einsetzen konnte, als die Gestalt plötzlich ins Licht vortrat, und sie bekam auf
einmal weiche Knie.
»Hallo Evie«, sagte Finlay Feldglöck lächelnd. »Du solltest
wirklich etwas wegen deiner Türschlösser unternehmen! Es
war ein Kinderspiel, hier einzubrechen.«
Evangeline wollte schon auf ihn zu laufen, bremste sich aber.
»Was bist du?«, fragte sie heiser. »Irgendein Gespenst, das
mich verfolgt? Mein Schuldgefühl, weil ich dich in den Tod
geschickt habe? Oder vielleicht irgendein Esper, hinter einer
mentalen Maske verborgen? Ein Klon womöglich, schon im
Voraus für den Fall hergestellt, dass sein Original umkam?
Oder habe ich schließlich den Verstand verloren und sehe jetzt
nur noch das, was ich sehen möchte?«
»Nichts davon«, antwortete Finlay. »Ich bin es, Evie. Ich
konnte aus dem Shreck-Turm fliehen, zwar rundherum etwas
angesengt, aber im Wesentlichen intakt. Nach dem, was ich mit
Gregor getan habe, hielt ich es für klüger, eine Zeit lang abzutauchen. Ich konnte mich nicht bei dir melden. Ich wusste ja
nicht, wer vielleicht mithört. Und dann hörte ich, ich wäre tot,
und entschied, dass das für alle das Beste sein mochte. Zeit für
ein neues Gesicht und eine neue Identität, denke ich. Dazu, mir
ein neues Leben aufzubauen. Mit dir. Ich weiß – es war grausam von mir, dich in der Überzeugung zu lassen, ich wäre tot,
aber es war für uns beide das Beste. Sag, dass du mir vergibst,
Evie.«
»Natürlich vergebe ich dir!«, sagte Evangeline. »Das tue ich
doch immer, oder?«
Und im nächsten Augenblick lagen sie sich in den Armen
und drückten sich die Luft weg. Schließlich liefen
Weitere Kostenlose Bücher