Töchter auf Zeit
würde, wenn sie darauf bestünde, dass er neben ihr säße, aber das wollte sie auf keinen Fall. Ross meinte, es wäre in Ordnung für ihn, da er ihr heute jeden Wunsch erfüllen würde. Seine Brüder und Martha standen ihm bei. Die Last auf unseren Schultern zog uns alle nach unten, keiner von uns kam ohne Stütze aus.
Am Friedhof gingen wir den Hügel hinauf, zu den gepflegten Grabstätten. Mir schwirrte der Kopf. Die Umgebung kam mir außergewöhnlich lebendig vor. Der Himmel zeigte sich in seinem schönsten Blau, wie aus einem Kinderbild. Hie und dawaren ein paar weiße Wolken zu sehen. Der Hügel beeindruckte mit seiner fast schon zu perfekten Form, als hätte Maura ihn gezeichnet: gerade ansteigend, dann ein perfektes Plateau und ebenso perfekt wieder abfallend. Die Blüten der Gladiolen auf dem Sarg meiner Schwester waren perfekt geformte Trompeten, ihre Farbe fast schon grell. Kurz kam mir in den Sinn, dass meine Sinne überreizt waren, möglicherweise als Ausgleich für den Schmerz, den ich auch körperlich spüren konnte, der sich in meinem Körper hineingrub und dort zu verwurzeln schien.
Hier bleibe ich erst mal
, schien mir dieser zornige Schmerz sagen zu wollen.
Schau dir doch die wunderschönen Blumen an, wenn du mich nicht aushältst, und lenk dich ab.
Wir standen vor dem Sarg – Tim, ich mit Sam in meinen Armen, Ross, der Maura an der Hand hielt, die Großeltern. Ich war anwesend, aber mein Geist war völlig verwirrt.
Das ist Mom
, schrie ich innerlich auf und fühlte mich wieder so hilflos und schutzbedürftig wie damals mit vierzehn.
Das ist Claire
, erinnerte mich mein Verstand wieder. Jetzt gibt es nur noch dich. Jetzt bist
du
Mom.
Irgendwie schafften wir es, zu uns nach Hause zu fahren. Obwohl Claires Haus geräumiger war und uns allen mehr Platz geboten hätte, wollte Ross das nicht. Er war sich sicher, dass das im Sinne von Claire war, denn sie hätte bestimmt nicht gewollt, dass alle ihr unaufgeräumtes Haus mit dem Krankenhausbett im Wohnzimmer und den ganzen Medikamenten sahen. Sie war immer so stolz darauf gewesen, dass sie eine so ordentliche Hausfrau war, die Spaß am Dekorieren hatte.
In unserem Haus herrschte geschäftige Betriebsamkeit. Delia und Martha zappten durch alle Kanäle, kümmerten sich um die Mädels, gingen ans Telefon, nahmen Blumenkränze entgegen, bereiteten Essen zu. Ich bekam noch mit, dass Davis mit Maura Quartett spielte.
Ich hab keinen König
, sagte sie mit ihrer piepsigen Stimme, aber ansonsten fühlte sich alles an wie im dichtenNebel. Später dann ging Larry mit Sam und Maura an der Hand nach hinten in den Garten und zeigte ihnen, hoch in einem Baumwipfel gelegen, ein Vogelnest, in dem drei Jungvögel hungrig nach ihren Eltern schrien. Als Maura das Nest sah, hellte sich ihr Gesicht auf und sie machte ganz große Augen. Daran kann ich mich noch erinnern: Larry entlockte Maura als Erster ein Lächeln.
Die Gäste verabschiedeten sich der Reihe nach, da es allmählich dunkel wurde. Maura wollte Kissen haben. Sie lag auf dem Boden vor dem Fernseher und sah sich einen Film an. Ich ging nach oben, in Sams Zimmer, setzte mich aufs Bett, und plötzlich übermannte mich eine so heftige Woge von Traurigkeit, dass ich mich aufs Bett warf und meinen Tränen freien Lauf ließ. Später kam Tim nach oben, um nach mir zu sehen, aber ich schlief tief und fest – ganze zwölf Stunden lang.
Irgendwie schafften wir es alle durch die nächste Woche.
Die Woche danach
. Die erste Woche ohne Claire. Es war eine gemeinsame Kraftanstrengung, jeder leistete seinen Beitrag und half mit, bis er nicht mehr konnte, sich zurückzog, um neue Kraft zu sammeln und dann wieder weitermachte.
An den Vormittagen sahen Sam, Maura und ich stundenlang Kinderserien an, lasen stapelweise Bücher und knabberten Müsli direkt aus der Schachtel, ohne Milch. Maura malte viele Bilder, Sam kritzelte herum oder sie legten gemeinsam ein Puzzle, spielen mit Lego-Steinen. Ich war völlig überrascht, wie gut die beiden miteinander klarkamen, denn ich hatte angenommen, dass der Altersunterschied zu groß wäre und Maura nichts mit Sam anfange könnte. Schließlich lebten eine Einjährige und eine Fünfjährige aufgrund ihrer unterschiedlichen intellektuellen, körperlichen und emotionalen Reife in unterschiedlichen Welten. Dass Maura natürlich weiter entwickelt war, hielt sie erstaunlicherweise nicht davon ab, gerne mit Sam zu spielen. Beide mochten dieselben Dinge, jede ihrem Alter
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