Töchter auf Zeit
Gespräche um China nichts anderes bedeuteten, als dass unser großer Tag immer näher rückte.
»Du sagst uns einfach, wann es so weit ist. Wir suchen uns dann ein Hotel.«
»Kommt nicht infrage. Ihr übernachtet selbstverständlich bei uns!« Das war unser übliches Ping-Pong-Spiel, das vor jedem ihrer Besuche stattfand.
»Wir wollen dir aber keine Arbeit machen«, sagte Delia. »Wir wollen euch nur helfen.«
»Ihr macht uns doch keine Arbeit. Wir freuen uns, wenn ihr da seid. Und jetzt Ende der Diskussion!«
Jede Menge Leute können ihre Schwiegereltern absolut nicht ausstehen. Ich gehörte nicht zu diesen Menschen, denn ich bewunderte meine. Davis Francis war der pensionierte Geschäftsführer einer ganzen Reihe von Fabriken. Mit seinen breiten Schultern und seinem dicken schwarzen Haar, das er trug wie Michael Douglas als Gordon Gecko in
Wall Street
, war er ein Mann, den man nicht übersehen konnte. Und genau diesen Eindruck vermittelte er über seine Präsenz.
Tims Mutter Delia war das ganze Gegenteil von Davis: klein und zierlich. Und wo sie sanft und gütig war, war Davis imposant und stark. Sie hatte braune Locken und eine zierliche Figur, und ein Blick von ihr genügte, und mir schnürte es die Kehle zu und Tränen traten in meine Augen. »Du bist etwas ganz Besonderes«, hatte Delia mir am Ende unseres ersten gemeinsamen Abendessens ins Ohr geflüstert. Dann hatte sie mir die Hand auf meine Wange gelegt und noch gemeint: »Auch meine Mutter ist an Krebs gestorben.« Ich rang nach Atem und wollte mich sammeln, aber es war ein sinnloses Unterfangen, Delias Worte hatten mich voll erwischt. Ich lag die ganze Nacht heulend – hysterisch schluchzend, voll Schmerz, aber letztlich irgendwie befreit und erleichtert – unter der Steppdecke in Delias Himmelbett. Sie hielt mich fest im Arm und ich weiß noch, dass ich mich damals gefragt hatte, wie lange es her war, dass mich eine Mutter festhielt und tröstete, und wie wohltuend das war, nicht anders als ein Teller heiße Hühnersuppe an einem regnerischen Tag.
Davis und Delia behandelten einander, als hätten sie es mit einer Flasche kostbaren Weins zu tun – voller Respekt und Anerkennung. Ich beobachtete sie mitunter genauso erstaunt, als hätte ich es mit exotischen Tieren im Zoo zu tun. Was ist das bloß für eine seltene Spezies, dieser »liebende Ehemann und Vater«?, dachte ich. Wie konnte sich Davis zu diesem aufmerksamen und gütigen Menschen entwickeln, dem seine Familieüber alles ging, während mein Vater vom Eheleben und seinen Kindern vollkommen überfordert gewesen war?
Natürlich fand ich keine Antwort auf diese Fragen, und letztlich war es ja auch egal, denn nun gehörte ich ja zu dieser wunderbaren Familie, die sich durch gegenseitige Zuneigung und Loyalität auszeichnete. »Heute lächelt Gott auf uns herab«, hatte Davis an unserem Hochzeitstag zu Tim und mir gesagt. Davis hatte mich zum Altar geführt und dort meinen Schleier gehoben und mich auf die Wange geküsst. In seinen Augen hatten Tränen gestanden. Dann hatte er meine Hand gedrückt und mir mit sanfter Stimme
Tochter
ins Ohr geflüstert. In diesem Moment hatte ich allerdings nach hinten gespäht und Larry entdeckt, der in einem Dreiteiler in der hintersten Ecke der Kirche stand. Gegen Claires Rat hatte ich ihm eine Einladung zu unserer Hochzeit geschickt. Beim Empfang hatte Larry verunsichert neben weitläufigen Verwandten von Tim gesessen. Im Laufe des Abends hatte ich gesehen, dass sich Claire abseits vom Geschehen mit Larry unterhalten hatte, doch als ich sie später danach gefragt hatte, hatte sie abgewunken, als wäre nichts gewesen. Je später es wurde, desto unauffälliger verhielt sich Larry und verfolgte die Ansprachen, das Anschneiden der Hochzeitstorte und den ersten Tanz aus größtmöglicher Distanz. Als er sich dann verabschiedete, machte er einen Schritt auf mich zu, als wollte er mich in den Arm nehmen, beließ es dann aber bei einem unbeholfenen Schulterklopfen. Dann reichte er Tim die Hand, drückte ihm eine Glückwunschkarte in die Hand und ging davon. Das war vor sieben Jahren gewesen, und seitdem hatte ich meinen Vater nicht mehr gesehen.
Davis und Delias großzügige Art und die Tatsache, dass sie das Leben von der lockeren Seite nahmen, hatten natürlich auch ihr einziges Kind geprägt. Tim hatte sich zu einem wunderbaren, wenngleich etwas naiven Mann entwickelt, der felsenfest davon überzeugt war, dass in jedem Mensch etwas Gutes steckt.
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