Töchter auf Zeit
als du – eine alte Dame im Vergleich zu deinen jugendlichen sechsunddreißig.«
»Stimmt, du bist echt eine alte Schachtel.«
»Egal. Ich bin froh zu hören, dass du dich langweilst, denn ich brauche deine Hilfe. Mit Maura.« Claire verzog ihren Mund zu einem sehr merkwürdigen Lächeln.
Ich schenkte uns ein Glas Limonade ein und ging mit Claire dann wieder ins Wohnzimmer. »Wovon redest du?« Ich setzte mich neben Sam auf den Boden und legte ihr ein Kissen zurecht. »Gibt es ein Problem in der Vorschule?«
»Ach, Helen, das wird jetzt echt hart für dich.«
»Für mich? Wovon sprichst du?«
»Wappne dich, Helen«, meinte Claire mit leiser Stimme.
»Moment noch!« Ich konnte hören, wie meine Stimme zitterte, so nervös war ich. »Kannst du mal kurz auf Sam aufpassen?Ich muss noch mal ganz dringend aufs Klo.« Ich rannte nach oben, erst ins Schlafzimmer, dann ins Bad, schloss die Tür hinter mir ab und setzte mich auf die Kloschüssel. Mein Herz dröhnte in meiner Brust und mir war schlecht. Als ich meine Augen schloss, tanzte ein bunter Farbreigen vor meinem inneren Auge, der sich langsam in Punkte auflöste.
Nein, nein, nein.
Ich öffnete die Augen wieder, starrte an die weiße Wand und warf meinen Kopf heftig hin und her. Ich hatte einen Riesenkloß im Hals stecken und meine Augen füllten sich mit Tränen.
»Helen.« Claire klopfte an die Tür. »Komm raus, okay?«
Ich schüttelte den Kopf.
Nein
.
»Helen, bitte!«
Ich stand auf und öffnete die Tür. Sam hing an Claires Hüfte und spielte mit ihrem Ohrring.
Wir gingen rüber ins Schlafzimmer und setzten uns aufs Bett. Claire nahm meine Hände in ihre.
»Was du mir gleich sagen wirst«, keuchte ich, denn ich bekam kaum noch Luft. »Ist nichts Gutes, oder?«
»Nein, ist es nicht.«
Wir sahen einander an und holten beide tief Luft.
»Sag’s einfach.«
»Ich habe Krebs, Helen. Eierstockkrebs, wie Mom.«
»Nein, das stimmt nicht«, beharrte ich verzweifelt. »Das muss ein Irrtum sein. Das kann nicht sein, du bist doch immer zur Vorsorgeuntersuchung gegangen.«
»Ja, jedes Jahr. Aber das lässt sich nicht immer ganz genau feststellen.«
»Warst du schon bei einem anderen Doktor?«, sagte ich. »Diese blöden Ärzte sind doch alles Quacksalber. Vielleicht haben sie die Ergebnisse verwechselt.«
Claire zog mich wortlos in ihre Arme. Eng umschlungen ließen wir beide unseren Tränen freien Lauf. Heftige Schluchzer erschütterten unsere Körper. Ich war wie gelähmt und dann doch wieder nicht. Ganz tief in meinem Inneren hatte ich tagein, tagaus mit einer solchen Hiobsbotschaft gerechnet. Und es fühlte sich genauso an, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Ein Gefühl, als ob ich ertrinken würde. Als ich um die zehn Jahre alt war, bin ich einmal mit Badeanzug und T-Shirt bekleidet ins Wasser gehüpft. Als ich nach unten gezogen wurde und die Luftblasen sah, die nach oben stiegen, wollte ich mir das T-Shirt über den Kopf ziehen. Doch ich muss so in Panik gewesen sein und vielleicht nach Luft geschnappt haben, dass sich der schwere Stoff über mein Gesicht legte und ich es deshalb nicht schaffte, aus den Armlöchern zu schlüpfen. Einen Augenblick war ich gefangen wie in einer Zwangsjacke. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich nicht im Ansatz die Kontrolle über mein Leben hatte und dass ich wohl den Rest meiner Tage gegen Kräfte ankämpfen würde, die viel stärker waren als ich.
»Ich werde dagegen ankämpfen«, sagte Claire nach einer gefühlten Ewigkeit. »Gott allein weiß, dass ich härter dagegen kämpfen werde als irgendwer sonst auf dieser Welt. Ich werde den Teufel tun und Maura allein auf dieser Welt lassen.«
»Seit wann weißt du es?«
»Noch nicht lang«, sagte Claire. »Ich hatte Schmerzen im Unterbauch. Ich dachte, es wäre Muskelkater, aber es war ein S
ymptom.
Gleich am nächsten Tag ließ ich mein Blut untersuchen, und die Werte waren unter aller Kanone. Sie haben mich gleich angerufen, dass ich eine Ultraschalluntersuchung machen lassen sollte. Dabei haben sie den Krebs dann entdeckt.«
»Aber sie können doch erst sagen, was es ist, wenn sie operiert haben«, beharrte ich, obwohl ich genau wusste, dass Eierstockkrebs einer der miesesten Trickbetrüger der Welt war. Bevor man irgendetwas merkt, ist man auch schon völlig ausgeraubt. Die Symptome dieses Krebses unterschieden sich nicht weiter von denen einer Verstopfung oder eines Muskelkaters.
»Nächste Woche ist es so weit. Sie machen dann eine Laparotomie und
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