Toechter Aus Shanghai
Höflichkeiten.
»Du wurdest in Dorf Wah Hong geboren, nicht wahr?«
Die Eidechsenaugen des Alten Herrn verengen sich zu Schlitzen. »Wer hat euch das erzählt?«
»Das soll uns jetzt egal sein. Stimmt es?«, fragt Sam.
Der Alte Herr antwortet nicht. Wir warten. Um uns herum hören wir Gelächter, Geplauder und das Klackern von Essstäbchen in Schüsseln. Schließlich grummelt der Alte Herr auf Sze Yup: »Ihr seid nicht die Einzigen, die aufgrund einer Lüge hier sind. Schaut euch die Leute hier im Restaurant an. Schaut euch die Leute an, die in China City arbeiten. Schaut euch die Leute bei uns im Viertel und bei uns im Haus an. Jeder lebt mit irgendeiner Lüge. Meine ist, dass ich nicht hier geboren wurde. Als das Erdbeben und das Feuer in San Francisco das Geburtenregister zerstörten, war ich dort. Nach amerikanischer Zählweise war ich fünfunddreißig Jahre alt. Wie viele andere auch bin ich zu den Behörden gegangen und habe behauptet, ich wäre in San Francisco geboren. Beweisen konnte ich das nicht, aber sie konnten mir auch nicht das Gegenteil beweisen. Deshalb bin ich jetzt amerikanischer Staatsbürger... auf dem Papier, so wie du mein Sohn auf dem Papier bist.«
»Und Yen-yen? Sie ist auch vor den Erdbeben hergekommen. Behauptet sie auch, amerikanische Staatsbürgerin zu sein?«
Der Alte Herr runzelt angewidert die Stirn. »Sie ist eine fu yen . Sie kann schlecht lügen, und sie kann kein Geheimnis bewahren. Offensichtlich. Sonst wärt ihr jetzt nicht hier.«
Sam reibt sich die Stirn, während er darüber nachdenkt, was das alles bedeutet. »Wenn jemand herausfindet, dass du die amerikanische Staatsbürgerschaft gar nicht besitzt, dann werden Wilburt, Edfred...«
»Ja, wir alle, und auch Pearl hier, stecken dann in Schwierigkeiten. Deshalb passe ich so auf euch auf.« Der Alte Herr ballt die Hand zur Faust. »Es darf keine Fehler geben, kein Versehen, versteht ihr?«
»Was ist mit mir?«, fragt May zögernd.
»Vern wurde hier geboren, daher bist du, meine May, die Ehefrau eines echten amerikanischen Staatsbürgers. Du bist legal hier eingereist und für immer in Sicherheit. Aber du musst auf deine Schwester und ihren Mann aufpassen. Ein falsches Wort von jemandem, und sie werden zurückgeschickt. Wir könnten alle abgeschoben werden, bis auf dich, Vern und Pan-di - allerdings würde das Kind ja bestimmt mit seinen Eltern und Großeltern nach China zurückkehren. Ich vertraue dir, dass du das nicht zulässt, May.«
May erblasst, als sie das hört. »Was soll ich denn tun?«
Der Alte Herr verzieht den Mund ganz leicht zu einem Lächeln, und zum ersten Mal erscheint er mir nicht herzlos. »Mach dir nicht zu viele Sorgen«, sagt er. Er wendet sich an Sam. »Jetzt kennst du mein Geheimnis, und ich kenne deines. Wir sind für immer miteinander verbunden, wie ein echter Vater mit seinem echten Sohn. Wir beide schützen uns nicht nur gegenseitig, sondern wir schützen auch die Onkel.«
»Warum ich?«, fragt Sam. »Warum nicht einer von ihnen?«
»Du kennst den Grund. Ich brauche jemanden, der sich um meine Geschäfte kümmert, der meinen leiblichen Sohn versorgt,
wenn ich tot bin, und der mich als Ahnen verehrt, wenn ich ins Jenseits gehe, denn Vern wird das nicht schaffen. Ich weiß, dass ihr mich für grausam haltet, und ihr glaubt mir wahrscheinlich nicht, doch ich habe dich wirklich als meinen Ersatzsohn auserwählt. Ich werde dich immer wie meinen ältesten Sohn behandeln, meinen Erstgeborenen, und deshalb gehe ich so hart mit dir um. Ich versuche, ein richtiger Vater zu sein! Ich gebe dir alles, aber drei Dinge musst du dafür tun. Zuerst musst du deine Fluchtpläne aufgeben.« Er hebt die Hand, um uns am Sprechen zu hindern. »Ihr braucht das gar nicht zu leugnen. Ich bin nicht dumm, ich weiß, was in meinem Haus vor sich geht, und ich bin es leid, mir ständig Gedanken deswegen machen zu müssen.« Er hält inne und fährt dann fort: »Du musst aufhören, im Tempel der Kwan Yin zu arbeiten. Das ist eine Schande für mich. Mein Sohn sollte nicht so eine Arbeit verrichten müssen. Und zuletzt musst du mir versprechen, dich um meinen Jungen zu kümmern, wenn die Zeit gekommen ist.«
Sam, May und ich schauen uns an. May gibt mir beinahe flehentlich zu verstehen: Ich will nicht wieder umziehen. Ich will in Haolaiwu bleiben. Sam, den ich immer noch nicht sonderlich gut kenne, nimmt meine Hand: Vielleicht ist das nun doch eine gute Gelegenheit. Er sagt, er behandelt mich wie einen richtigen
Weitere Kostenlose Bücher