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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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lernen, war bei einer der Missionen in Chinatown - die Missionare stellen das wirklich klug an. Wir mussten zwar nur einen Dollar monatlich für die Unterrichtsstunden an fünfeinhalb Tagen die Woche zahlen, dafür musste Joy zur Sonntagsschule gehen und eines der Elternteile sonntags am Gottesdienst teilnehmen, was ich nun regelmäßig seit sieben Jahren tue. Auch wenn manche Eltern über diese Vorschrift murren, halte ich es für eine gerechte Gegenleistung. Manchmal höre ich mir die Predigten sogar gerne an, denn sie erinnern mich an jene, denen ich als Kind in Shanghai lauschte.
    Ich öffne Betsys Brief. Vor dreizehn Monaten kam Mao in
China an die Macht, vor viereinhalb Monaten fiel Nordkorea - unterstützt von der Chinesischen Volksbefreiungsarmee - in Südkorea ein. Noch vor fünf Jahren waren China und die Vereinigten Staaten Verbündete. Fast über Nacht scheint das kommunistische China nach Russland der meistgehasste Feind der USA geworden zu sein. In den letzten Monaten hat Betsy mir mehrmals geschrieben. Ihre Loyalität sei in Frage gestellt worden, weil sie so lange in China geblieben sei, und ihr Vater sei einer der vielen Mitarbeiter des Außenministeriums, dem man vorwirft, Kommunist und ein »old China hand«, ein Chinaexperte, zu sein. Damals in Shanghai war es ein Kompliment, wenn man jemanden als »old China hand« bezeichnete; in Washington ist es jetzt so, als würde man des Kindermordes beschuldigt. Betsy schreibt:
    Für meinen Vater wird es wirklich eng. Wie kann man ihm Dinge vorwerfen, die er vor zwanzig Jahre schrieb und darin Chiang Kai-shek und dessen Vorgehen in China kritisierte? Sie sagen, Dad sympathisiere mit den Kommunisten, man beschuldigt ihn, dazu beizutragen, »China zu verlieren«. Mom und ich hoffen, dass er seine Stelle behalten darf. Wenn sie ihn doch rauswerfen, bekommt er hoffentlich seine Pension. Zum Glück hat er immer noch Freunde im Außenministerium, die die Wahrheit über ihn kennen.
    Als ich den Brief zusammenfalte und zurück in den Umschlag schiebe, überlege ich, was ich Betsy erwidern soll. Es wird ihr wohl nicht besonders helfen, wenn ich ihr schreibe, dass wir alle Angst haben.
    Joy und Hazel kommen auf die Straße gerannt. Sie sind zwölf Jahre alt und jetzt seit sieben Wochen in der sechsten Klasse. Sie halten sich für so gut wie erwachsen, aber sie sind chinesische Mädchen und körperlich noch völlig unentwickelt. Ich gehe ihnen nach, während sie Händchen haltend die Straße Richtung
Pearl’s Café hinunterschlendern und verschwörerisch miteinander tuscheln. Beim Metzger am Broadway will ich zwei Pfund frisches char siu mitnehmen, duftendes gebratenes Schweinefleisch, das Geheimnis von Sams Chow mein. Heute herrscht viel Betrieb in der Metzgerei, und alle haben seit Ausbruch dieses neuen Krieges Angst. Manche haben sich ins Schweigen zurückgezogen. Andere sind in Depressionen versunken. Wieder andere sind zornig, so wie der Metzger.
    »Warum lassen die uns nicht einfach in Ruhe?«, fragt er auf Sze Yup in den Raum. »Kann ich vielleicht etwas dafür, dass Mao den Kommunismus verbreiten will? Das hat doch nichts mit mir zu tun!«
    Niemand widerspricht ihm. Wir alle denken wie er.
    »Sieben Jahre!«, ruft er und schlägt sein Hackbeil in ein Stück Fleisch. »Sieben Jahre ist es her, dass die Ausschlussgesetze abgeschafft wurden. Jetzt hat die lo fan -Regierung ein neues Gesetz verabschiedet, damit sie im Fall eines nationalen Notstands Kommunisten einsperren kann. Jeder, der jemals ein einziges Wort gegen Chiang Kai-shek gesagt hat, wird verdächtigt, Kommunist zu sein.« Der Metzger fuchtelt mit dem Hackbeil vor uns herum. »Und man muss nicht mal was Schlimmes gesagt haben. Es reicht schon, Chinese zu sein und in diesem miesen Land zu leben! Wisst ihr, was das bedeutet? Jeder von uns ist verdächtig!«
    Joy und Hazel sind verstummt und starren den Metzger mit großen Augen an. Eine Mutter hat nur ein Ziel, nämlich ihre Kinder zu beschützen, aber ich kann Joy nicht von allem abschirmen. Wenn wir zusammen unterwegs sind, kann ich sie nicht von allen Zeitungsschlagzeilen ablenken, die uns in Englisch und Chinesisch entgegenschreien. Ich kann die Onkel bitten, beim Sonntagsessen nicht über den Krieg zu sprechen, doch die Nachrichten sind überall, und jeder redet darüber.
    Joy ist zu jung, um zu verstehen, dass bei Aufhebung des Habeas-corpus-Rechts jeder - auch ihr Vater und ihre Mutter - unbegrenzt in Haft gehalten werden kann. Wir wissen zwar

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