Toechter Aus Shanghai
allerdings ohne Überdachung - auf das untere Deck, wo wir uns befinden. Ein lo fan in Regenjacke läuft über den Steg und steigt auf eine Kiste. »Nehmen Sie alles an sich, was Sie mitgebracht haben!«, ruft er auf Englisch. »Alles, was zurückbleibt, wird weggeworfen.«
Die Leute um uns herum murmeln verwirrt.
»Was sagt er da?«
»Seid still. Ich kann nichts verstehen.«
»Schneller!«, ruft der Mann in der Regenjacke. »Chop! Chop!«
»Haben Sie ihn verstanden?«, fragt ein völlig durchnässter, zitternder Mann neben mir. »Was sollen wir tun?«
»Wir sollen unsere Sachen nehmen und das Schiff verlassen.«
Als wir alle gehorchen, stemmt der Mann in der Regenjacke die Fäuste in die Hüften und brüllt: »Und zusammenbleiben!«
Wir gehen von Bord. Alle schieben und drängen, als wäre es das Wichtigste auf der Welt, als Erster an Land zu kommen. Als unsere Füße festen Boden berühren, führt man uns nicht in das Gebäude auf der rechten Seite wie die anderen Passagiere, sondern nach links, am Pier entlang und dann über einen kurzen Landungssteg auf eine kleine Barkasse - und alles ohne Erklärung. An Bord stelle ich fest, dass es hier zwar ein paar Weiße und sogar eine Handvoll Japaner gibt, aber der Großteil sind Chinesen.
Die Leinen werden losgemacht, und es geht zurück in die Bucht.
»Wo fahren wir denn jetzt hin?«, fragt May.
Wie kann es sein, dass May nur so wenig von dem mitbekommt, was um uns herum geschieht? Wieso kann sie nicht aufpassen? Warum hat sie das Handbuch nicht gelesen? Weshalb kann sie sich nicht damit abfinden, was aus uns geworden ist? Dieser Princeton-Student, wie auch immer er heißt, hat ganz genau
begriffen, welche Stellung sie nun hat, aber May weigert sich, das zu akzeptieren.
»Wir fahren zu dem Auffanglager für Immigranten auf Angel Island«, erkläre ich.
»Ah«, sagt sie leichthin. »Na gut.«
Der Regen wird heftiger, der Wind kälter. Die kleine Barkasse tanzt auf den Wellen. Einige müssen sich übergeben. May hängt den Kopf über die Reling und saugt die nasse Luft in sich ein. Wir fahren an einer Insel in der Mitte der Bucht vorbei, und ein paar Minuten lang sieht es so aus, als würden wir wieder unter der Golden Gate Bridge hindurchtuckern, hinaus aufs Meer und zurück nach China. May stöhnt und versucht sich auf den Horizont zu konzentrieren. Dann dreht die Barkasse nach rechts ab, umrundet eine weitere Insel und fährt in eine kleine Bucht bis zu einer Anlegestelle am Ende eines langen Hafenbeckens. Auf dem Hügel ducken sich flache weiße Holzgebäude. Vor uns zittern vier stummelartige Palmen im Wind, und die durchnässte Flagge der Vereinigten Staaten schlägt knatternd gegen einen Mast. Auf einem großen Schild steht: RAUCHEN VERBOTEN. Wieder drängen sich alle, um als Erste von Bord zu gehen.
»Zuerst Weiße mit unvollständigen Papieren!«, brüllt der Mann mit der Regenjacke, als würde die höhere Lautstärke den Menschen, die kein Englisch können, plötzlich Sprachkenntnisse vermitteln. Aber natürlich haben die meisten Chinesen keine Ahnung, was er sagt. Die weißen Passagiere werden herausgeholt und nach vorne gebracht, während zwei untersetzte, sehr massige Wächter die Chinesen wegschieben, die den Fehler begangen haben, sich ganz vorne in die Schlange zu stellen. Aber diese lo fan verstehen auch nicht viel von dem, was der Mann in der Regenjacke sagt. Mir wird klar, dass sie Weißrussen sind. Sie rangieren noch unterhalb der niedrigsten Shanghaier, und dennoch wird ihnen hier eine Sonderbehandlung zuteil! Sie werden vom Boot in das Gebäude geführt. Dann geschieht etwas, was uns noch mehr entsetzt: Die Japaner und Koreaner werden ausgesondert
und höflich zu einer anderen Tür im Verwaltungsgebäude gebracht. »Jetzt seid ihr dran«, weist uns der Mann in der Regenjacke an. »Wenn ihr von Bord kommt, stellt ihr euch in zwei Reihen auf. Die Männer links, Frauen und Kinder unter zwölf rechts.«
Es herrscht große Verwirrung, und die Wächter behandeln alle ziemlich unsanft, aber sobald wir so aufgereiht stehen, wie sie es haben wollen, werden wir im strömenden Regen über den Kai zum Verwaltungsgebäude geführt. Die Männer werden durch eine Tür und die Frauen und Kinder durch eine andere geschickt - wobei Ehepaare voneinander und Väter von ihren Familien getrennt werden -, und von allen Seiten werden ängstliche, sorgenvolle Schreie laut. Keiner der Wachmänner zeigt auch nur das geringste Mitgefühl. Wir werden schlechter
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