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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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behandelt als die Fracht, die mit uns auf dem Schiff gekommen ist.
    Die Trennung in Europäer (damit sind alle Weißen gemeint), Asiaten (jeder, der von der anderen Seite des Pazifiks kommt und kein Chinese ist) und Chinesen wird beibehalten, als wir einen steilen Hügel hinauf zu einer medizinischen Einrichtung in einem der Holzhäuser gebracht werden. Eine weiße Frau in wei ßer Uniform mit gestärkter weißer Haube verschränkt die Hände und hält uns einen Vortrag auf Englisch, und zwar wieder so laut, als könne das etwas an der Tatsache ändern, dass niemand außer May und mir versteht, was sie sagt.
    »Viele von Ihnen versuchen, mit hässlichen und gefährlichen parasitären Erkrankungen in unser Land einzureisen«, sagt sie. »Das können wir nicht zulassen! Die Ärzte und ich untersuchen Sie jetzt auf das Trachom, auf Hakenwürmer, Filariose und Leberegel.«
    Die Frauen um uns herum fangen an zu weinen. Sie wissen nicht, was diese Frau will, aber sie trägt Weiß - die Farbe des Todes. Eine Chinesin in einem langen, ebenfalls weißen cheongsam wird zum Übersetzen hereingeführt. Bisher war ich halbwegs ruhig, aber als ich höre, was diese Leute mit uns vorhaben,
fange ich an zu zittern. Wir sollen untersucht werden wie Reis, der zum Kochen verlesen wird. Als wir uns ausziehen sollen, reagieren die meisten mit unterdrücktem Murren. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich mich mit May über die Prüderie der anderen Frauen lustig gemacht, weil wir beide anders waren als die meisten Chinesinnen. Wir waren Kalendermädchen. Wie gut oder schlecht das gewesen sein mag, wir hatten unsere Körper enthüllt. Aber die meisten Chinesinnen zeigen sich in der Öffentlichkeit niemals nackt und auch privat vor ihren Männer oder Töchtern nur selten.
    Doch so locker ich in dieser Hinsicht einmal gewesen sein mag, davon ist nichts mehr übrig. Unbekleidet zu sein ist mir unerträglich, und ich kann es nicht aushalten, berührt zu werden. Ich klammere mich an May fest, die mich beruhigt. Selbst als die Krankenschwester uns trennen will, bleibt May bei mir. Ich beiße mir auf die Lippen, damit ich nicht schreie, als der Arzt kommt. Ich schaue über seine Schulter aus dem Fenster hinaus. Ich habe Angst, wieder mit diesen Männern in der Hütte zu sein, wenn ich die Augen schließe, Mamas Schreie zu hören, zu spüren... Ich reiße die Augen weit auf. Alles ist weiß und sauber … nun, zumindest sauberer als die Hütte in meiner Erinnerung. Ich rede mir ein, die kalten Instrumente des Arztes, seine weichen, weißen Hände auf meiner Haut nicht zu spüren; ich schaue hinaus auf die Bucht. Wir sind jetzt von San Francisco abgewandt, und ich sehe nur graues Wasser, das in grauen Regen übergeht. Dort draußen muss irgendwo Land sein, aber ich habe keine Ahnung, wie weit es entfernt ist. Sobald der Arzt mit mir fertig ist, kann ich wieder atmen.
    Der Arzt untersucht uns nacheinander, während wir - vor Kälte und Angst zitternd - warten, bis jede von uns eine Stuhlprobe abgegeben hat. Als Erstes wurden wir von anderen Rassen getrennt, dann die Männer von den Frauen, und nun werden wir Frauen untereinander noch einmal aufgeteilt: Eine Gruppe soll in den Schlafsaal, eine zweite ins Krankenhaus, um sich
einer Wurmkur zu unterziehen, die den Hakenwürmern den Garaus macht, und eine dritte Gruppe umfasst diejenigen, die von Leberegeln befallen sind. Diese Gruppe muss auf der Stelle und ohne Einspruchsmöglichkeit zurück nach China. Nun flie ßen die Tränen in Strömen.
    May und ich gehören zu der Gruppe, die in den Frauenschlafsaal im ersten Stock des Verwaltungsgebäudes geführt wird. Nachdem wir alle den Raum betreten haben, wird die Tür hinter uns zugesperrt. Dreistöckige Betten sind in Zweierreihen durch Eisenstangen miteinander verbunden, die an Decke und Boden befestigt sind. Es sind keine richtigen »Betten«, sondern Liegeflächen aus Maschendraht. Die Rahmen könnten zusammengeklappt werden, um mehr Platz zu schaffen, aber auf dem Boden möchte offensichtlich niemand sitzen. Der Abstand zwischen den Betten beträgt höchstens einen halben Meter. Der wenige Raum über den Betten lässt mich schon auf den ersten Blick erkennen, dass ich am Bett darüber anstoßen werde, wenn ich den Arm ausstrecke. Nur auf dem obersten Bett ist genügend Platz, um aufrecht zu sitzen, aber dort haben die anwesenden Frauen bereits ihre Wäsche mit Schnüren an den Eckpfosten zum Trocknen aufgehängt. Unter jedem besetzten Etagenbett

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