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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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Schweins, und er hat sein ganzes Leben dort verbracht. Die anderen Brüder wurden 1907, 1908 und 1911 geboren - alle in Wah Hong. Sie leben jetzt in Los Angeles. Ich bemühe mich, mir möglichst jedes kleine Detail zu merken - die diversen Geburtsdaten, die Adressen in Wah Hong und Los Angeles und so weiter -, und erzähle May, was ich für wichtig
halte, über den Rest mache ich mir keine weiteren Gedanken.
    Am nächsten Morgen, dem 15. November, stehen wir früh auf und ziehen unsere besten Kleider im westlichen Stil an. »Wir sind Gäste in diesem Land«, sage ich. »Wir sollten aussehen, als würden wir hierher gehören.« May pflichtet mir bei und schlüpft in ein Kleid, das Madame Garnet vor einem Jahr für sie genäht hat. Wie ist es möglich, dass die Seide und die Knöpfe es unversehrt und ohne Flecken hierher geschafft haben, während ich...? Ich muss aufhören, so zu denken.
    Wir packen unsere Sachen zusammen und geben unsere beiden Taschen dem Träger. Dann suchen May und ich uns drau ßen einen Platz an der Reling, aber im Regen ist nicht viel zu sehen. Die Golden Gate Bridge über uns ist wolkenverhangen. Zu unserer Rechten duckt sich die Stadt ans Ufer - nass, düster und belanglos im Vergleich zum Bund in Shanghai. Unter uns ist das offene Zwischendeck, wo Hunderte von Kulis, Rikschafahrern und Bauern sich in einer wogenden Menschenmenge drängen. Der muffige Dunst ihrer nassen Kleider weht zu uns herauf.
    Das Schiff legt am Kai an. Kleine Familiengrüppchen aus der ersten und zweiten Klasse - lachend rempeln sie sich an, freuen sich, endlich angekommen zu sein - zeigen ihre Papiere vor und gehen über eine Landungsbrücke mit Überdachung, die sie vor dem Regen schützt, von Bord. Als wir an der Reihe sind, zeigen wir ebenfalls unsere Papiere vor. Der Beamte sieht sie durch, runzelt die Stirn und winkt einem Mitglied der Schiffsbesatzung.
    »Die beiden hier müssen ins Auffanglager auf Angel Island«, sagt er.
    Wir folgen dem Matrosen durch die Korridore des Schiffs und mehrere Treppen nach unten, wo es feucht riecht. Ich bin froh, als wir wieder ins Freie kommen, bis ich merke, dass wir jetzt bei den Passagieren auf dem Zwischendeck sind. Über diesem Deck gibt es natürlich weder Persennings noch sonstigen Schutz. Der kalte Wind bläst uns den Regen ins Gesicht, unsere Kleider werden nass.
    Um uns herum studieren die Leute verzweifelt ihre Handbücher. Dann reißt der Mann neben uns plötzlich eine Seite aus seinem Büchlein, stopft sie sich in den Mund, kaut ein bisschen und schluckt sie herunter. Jemand anders erzählt, er hätte sein Handbuch in der Nacht zuvor ins Wasser geworfen, und ein anderer prahlt damit, er hätte seines in der Latrine versenkt. »Viel Glück, wenn das noch jemand suchen will!« Mir wird flau im Magen. Hätte ich das Handbuch wegwerfen sollen? Das hat Sam mir nicht aufgetragen. Jetzt komme ich nicht mehr heran, denn es steckt in meinem Hut im Gepäck. Ich atme tief ein und versuche mich zu beruhigen. Es gibt nichts, wovor wir Angst haben müssten. Wir haben es geschafft, aus China herauszukommen, den Krieg hinter uns zu lassen und sind nun im Land der Freiheit und so weiter.
    May und ich drängeln uns an den übel riechenden Arbeitern vorbei zur Reling. Hätten sie sich nicht waschen können, bevor wir anlegen? Was für einen Eindruck wollen sie auf unsere Gastgeber machen? May hat etwas völlig anderes im Kopf. Sie mustert die Passagiere, die immer noch der Reihe nach die Decks der ersten und zweiten Klasse verlassen, sucht nach dem jungen Mann, mit dem sie auf der Reise so viel Zeit verbracht hat. Als sie ihn erblickt, packt sie mich aufgeregt am Arm.
    »Da ist er! Das ist Spencer.« Sie ruft ihn. »Spencer! Spencer! Hier sind wir! Kannst du uns helfen?«
    Sie winkt und ruft noch ein paarmal, aber er dreht sich nicht um, sucht sie nicht an der Reling der dritten Klasse. May verzieht das Gesicht, als er den Gepäckträgern ein Trinkgeld gibt und mit einer Gruppe weißer Passagiere in einem Gebäude auf der rechten Seite verschwindet.
    Die Fracht aus dem Schiffsbauch wird in großen Netzen ausgeladen und auf dem Kai zwischengelagert. Von dort aus kommt das meiste direkt ins Zollhaus. Bald verlassen genau diese Kisten und Truhen den Zoll wieder und werden auf Lastwagen geladen. Die Abgaben sind bezahlt, und die Waren werden auf den
Weg zu ihrem neuen Ziel gebracht, nur wir warten weiter im Regen.
    Ein paar Besatzungsmitglieder hieven einen weiteren Landungssteg -

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