Toechter Aus Shanghai
nicht aufgerufen, wissen wir, dass an diesem Tag nichts mehr passiert. Wenn der Nachmittag naht, herrscht immer große Spannung und Angst im Raum. Um Punkt vier Uhr kommt der Wachmann herein und ruft: » Sai gaai «, abgekürzt für hou sai gaai , was in einem der kantonesischen Dialekte Glück bedeutet. Dann nennt er die Namen derjenigen, die an Bord des Schiffes gehen dürfen, um den letzten Abschnitt ihrer Reise nach Amerika anzutreten. Einmal geht der Wachmann auf eine Frau zu und reibt sich die Augen, als weinte er. Lachend teilt er ihr mir, dass sie zurück nach China geschickt wird. Den Grund für ihre Abschiebung erfahren wir nie.
Im Lauf der nächsten Tage erleben wir, wie die Frauen, die zusammen mit uns angekommen sind, nach San Francisco weiterreisen dürfen. Neue Frauen treffen ein, gehen zu ihren Anhörungen und verlassen uns wieder. Wir werden immer noch nicht geholt. Jeden Abend, nachdem wir wieder eine ekelhafte Mahlzeit aus Schweineknöcheln oder gekochtem Stockfisch mit fermentiertem Tofu zu uns genommen haben, ziehe ich mir unter der Decke das Kleid aus, hänge es über mir auf die Leine und versuche zu schlafen, in dem Wissen, dass ich bis zum nächsten Morgen in diesem Raum eingesperrt sein werde.
Doch das Gefühl, eingesperrt und gefangen zu sein, geht weit, weit über diesen Raum hinaus. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort und mit mehr Geld hätten May und ich unserer Zukunft entfliehen können. Aber hier und jetzt haben wir keine Wahl, wir sind unfrei. Wir haben unser bisheriges Leben verloren. Bis auf unsere Ehemänner und unseren Schwiegervater kennen wir niemanden in den Vereinigten Staaten. Baba hat gesagt, wenn wir nach Los Angeles gingen, würden wir in schönen Häusern wohnen, Dienstboten haben, Filmstars sehen, daher ist dies vielleicht der Weg, der für May und mich vorherbestimmt war. Wir könnten uns glücklich schätzen, so gut geheiratet zu haben. Ob in arrangierten Ehen oder nicht, ob in der Vergangenheit oder jetzt, im Jahr 1937 - Frauen haben immer schon des Geldes wegen und aller damit verbundenen Vorteile geheiratet. Trotzdem habe ich einen geheimen Plan. Wenn May und ich nach Los Angeles kommen, werden wir etwas von dem Geld sparen, das wir von unseren Ehemännern für Kleider und Schuhe, für die Schönheitspflege und den Haushalt bekommen, und machen uns irgendwann aus dem Staub. Ich liege auf dem Maschendraht, der mir als Bett dient, lausche dem leisen, traurigen Klang des Nebelhorns und den Frauen in diesem Raum, die weinen, schnarchen oder flüstern, und schmiede einen Plan, wie May und ich Los Angeles eines Tages verlassen und nach New York oder Paris verschwinden werden - Städte, die Shanghai an Glanz, Kultur und Wohlstand gleichkommen sollen.
Als wir zwei Dienstage später wieder Sachen aus unserem Gepäck holen dürfen, nimmt May die Bauernkleidung heraus, die sie für uns in Hangchow gekauft hat. Wir tragen sie nachmittags und nachts, weil es zu kalt und schmutzig ist für unsere guten Kleider, die wir morgens immer anziehen, falls wir zu einer erneuten Anhörung gerufen werden. In der Mitte der darauf folgenden Woche gewöhnt May sich an, unsere Reisekleider gar nicht mehr auszuziehen.
»Was ist, wenn wir aufgerufen werden?«, frage ich. Wir sitzen oben auf unseren Stockbetten, eine kleine Schlucht zwischen uns, um uns herum die Kleider, die wie Fahnen herabhängen. »Glaubst du, hier ist es so anders als in Shanghai? Es ist wichtig, wie wir gekleidet sind. Wer gut angezogen ist, kommt früher hier weg als diejenigen, die aussehen wie...« Ich beende den Satz nicht.
»Bauern?«, ergänzt May für mich. Sie verschränkt die Arme über dem Bauch und lässt die Schultern hängen. Sie hat sich stark verändert. Wir sind jetzt seit einem Monat hier, und irgendwie macht es den Eindruck, als hätte sie all der Mut verlassen, den sie aufgebracht hat, um mich in Sicherheit zu bringen. Ihre Haut sieht käsig aus. Sie zeigt kein besonderes Interesse daran, sich die Haare zu waschen, die genau wie meine lang und strähnig geworden sind.
»Komm schon, May, du musst dich zusammenreißen. Wir sind bestimmt nicht mehr lange hier. Geh unter die Dusche, und zieh dir ein Kleid an. Dann fühlst du dich besser.«
»Wieso? Sag mir nur einen einzigen Grund. Ich kann dieses scheußliche Zeug hier nicht essen, daher muss ich auch diese Toiletten nicht benutzen«, sagt sie. »Ich tue nichts, deshalb schwitze ich auch nicht. Und selbst wenn, würde ich nirgends
Weitere Kostenlose Bücher